/Sexualität in der Ehe: Losgelöst

Sexualität in der Ehe: Losgelöst

Die wichtigste Frage stellt Erik Meinhard immer in der ersten Viertelstunde. So lange braucht es, um von dem Treffpunkt an der Bahnstation bis zu der Brücke, die über den schmalen Fluss führt, zu laufen. Gefällt ihm die Antwort, geht er mit der Frau über die Brücke und geht dann noch eine ganze Weile mit ihr spazieren. Vielleicht nimmt er sogar zum ersten Mal vorsichtig ihre Hand. Gefällt ihm die Antwort nicht, verabschiedet er sich “möglichst höflich”, bevor er allein die Brücke betritt. 15 Minuten haben aber alle. Selbst die Frauen, die er nicht attraktiv findet oder diejenigen, die falsche Schuhe für einen Spaziergang gewählt haben.

Die wichtigste Frage lautet: Könntest du ein Verbrechen begehen und ungestraft davonkommen – welches würdest du dir aussuchen?

Zum ersten Mal hat Meinhard sie vor vielen Jahren einer Kollegin gestellt, die er als noch junger Mann in seinem Ausbildungsbetrieb kennenlernte. Sie hat ihm, ohne zu zögern und unglaublich detailliert, geschildert, wie sie den Penis ihres Ex-Freundes abtrennen würde. Während er bei Bewusstsein ist. Da dachte Erik Meinhard, es sei eine gute Frage, um Menschen besser kennenzulernen.

Oder auszusortieren.

Meinhard ist einer, der seine Frau betrügt. Er muss viel sortieren. Vor etwas mehr als einem Jahr hat er eine Kontaktanzeige im
ZEITmagazin
geschaltet, seitdem ist alles anders.

Meine Ehe: eine über die Jahre gewachsene tolle Partnerschaft – Erotik: Null. Da bin ich doch nicht der/die einzige, dem es so geht. M, 56, sucht Frau in vergleichbarer Situation für altmodische Affäre.

Seine Anzeige fällt auf unter den anderen. Er sucht nicht die große Liebe, anscheinend nicht nur schnellen Sex. Und keine viel jüngere Frau. Meinhard entspricht dem Klischee des betrügenden Ehemannes. Zugleich entspricht er ihm aber auch nicht. Und er ist ziemlich sicher nicht “der/die einzige, dem es so geht”. Also so, dass in der festen und guten Partnerschaft etwas fehlt: Sex.

Dieses Problem teilt Erik Meinhard mit vielen Menschen. Nicht nur mit den älteren, die schon jahrelang verheiratet sind. Auch mit den jüngeren, die endlich jemanden zum Lieben gefunden haben und dann auf einmal, nach drei oder viereinhalb oder sieben Jahren oder einfach nur nach dem ersten Kind, kaum noch miteinander schlafen. Er teilt es mit Männern und mit Frauen. Seine Anzeige ist auch deshalb interessant, weil sie zu keinem anderen Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte so selbstverständlich gewesen wäre wie heute. Heute, wo sich alle nach der großen Liebe sehnen, sich aber ohne ein erfülltes Sexleben wie ein Versager fühlen. Heute, wo vielen die Verbindlichkeit abhandengekommen ist. Und immer irgendetwas fehlt.

Außer Sex hat Meinhard alles. Er lebt in einer Großstadt, hat viel zu tun, leitet einen Betrieb, reist zu Kunden und Messen, ist für mehrere Angestellte verantwortlich und verdient gut. Er mag Actionfilme und liest manchmal ein Buch. Er geht regelmäßig joggen. Er hat gute Freunde und nette Bekannte. Er kocht gerne, mag Wein. Er ist seit 25 Jahren verheiratet und möchte es bleiben.

An dem schmalen Fluss erzählt Erik Meinhard, der hier anders heißt, wie die Kontaktanzeige sich auf sein Leben auswirkt. Es ist eines von drei Treffen, die Meinhard in dem Jahr nach der Annonce zulässt.

Er möchte zuerst nicht mit einer Journalistin über sein Leben sprechen. Auf die erste Anfrage per E-Mail reagiert er zwar sehr freundlich, aber skeptisch. Er schreibt: “In erster Linie geht es mir darum, niemanden unnötig zu verletzen, und selbstverständlich habe ich auch kein Interesse an irgendwelchem Rummel um meine Person.” Daran ändert sich auch nichts, als er sich später doch entschließt, von sich und seinem geplanten Betrug zu erzählen. Meinhard weist bei jedem Treffen mehrfach darauf hin, dass er nicht erkennbar sein darf. Dass er seine Frau nicht bloßstellen möchte und die anderen Frauen ebenfalls nicht. Das ist ihm sehr wichtig.

Er sagt nie, er fürchte sich, erwischt zu werden. Er gibt nie mit etwas an, erst recht nicht mit Sexgeschichten.

Nach dem ersten Kontakt per E-Mail dauert es noch einige Wochen, bis Meinhard zu einem Telefonat bereit ist. Vorab warnt er, dass er nicht gerne telefoniere. “Schon gar nicht lang.” Doch dann beantwortet Meinhard knapp zwei Stunden lang Fragen. Seine Stimme klingt etwas rau, aber zugleich zugewandt. Am Ende sagt er, er habe sich auch deshalb auf das Gespräch eingelassen, weil es ihn störe, dass Ehebruch so ein Tabu sei. “Dabei betrifft es doch recht viele.”

Es wird mehrere Monate dauern, bis sich Erik Meinhard zum ersten Mal in seiner Stadt besuchen lässt. Meinhard ist einer, der KW 23 schreibt, wenn er Anfang Juni Zeit hat. Oft hat er dann aber doch keine Lust und sagt ab. Wenn er nicht absagt, ist er vollkommen präsent. Schaut nie aufs Handy, hält Türen auf, wischt die Bank am Flussufer ab, bevor man sich setzt. Sich selbst beschreibt Meinhard am Telefon so: “1,83 Meter, athletisch, die Haare noch relativ dicht, aber grau meliert. Wahrscheinlich sehe ich trotzdem ganz gut aus für viele Frauen, mache nämlich Krafttraining.” An der Bahnstation fällt er auf, weil er als einziger Mann dort wartet. Das Krafttraining ist nicht unbedingt zu erkennen, aber er hat sich Mühe gegeben. Schwarze Halbschuhe mit Budapestermuster, bequem genug, um darin länger zu laufen. Schwarze Hose, helles, feines Cordhemd. Das graue Brusthaar wirbelt aus dem heute etwas weiter aufgeknöpften Hemd. Dazu trägt er eine Sonnenbrille, die Gläser so dunkel wie seine Hosenbeine.

Beim Spaziergang hält Meinhard seine Hände manchmal schon hinter dem Rücken fest. Nicht so ausdauernd, wie es die alten Männer tun, aber eben so, wie es kein junger Mann macht. An der Brücke über den schmalen Fluss bleibt er stehen. Verabschiedet Meinhard sich hier sonst “möglichst höflich” von einer Frau, mit der er nicht weitergehen will, dann sagt er Sätze wie: “Ich glaube, wir passen nicht so recht zusammen.” Es hat ihm noch nie eine Frau widersprochen. “Es spüren ja eigentlich beide gleichermaßen, ob da eine Verbindung ist oder nicht. Nur manche wollen dann trotzdem noch ewig reden.” Das mag Meinhard nicht. Deswegen geht er mit fremden Frauen spazieren und nicht in ein Café, wo er vielleicht noch auf die Rechnung warten muss, bevor er weg kann.

Zuletzt hat er eine Frau aus Sachsen am Fluss stehen lassen. Sie war extra angereist und aufgeregt. Er fand sie hübsch, aber zu unsicher. “Zu wenig Stadt.” Meinhard reist beruflich viel in Deutschlands große Städte, und er “mag eine Frau auf Augenhöhe”. Denkt er an eine Affäre, dann denkt er an alte französische Filme. An Paris. An Cabrios und Hotelzimmer und laszives Rauchen. “An Sachsen”, sagt er, “denke ich nie.”

Auf der Bank am Ufer erzählt Erik Meinhard später auch von einer Frau, die ihn nicht wollte. Sie hat ihm gut gefallen. Auf dem Foto, das sie ihm schickt, aber auch in den E-Mails, die sie sich schreiben. Er mag, welche Wörter sie wann benutzt. Er mag auch ihre sexuellen Vorlieben, die sie ihm im Detail schildert. Und wie sie auf seine reagiert. “Perfekt, dachte ich, die ist es. Ich habe genau die Richtige gefunden.” Einige Monate ist das nun her. Sie haben sich nie getroffen. Dreimal hat sie ihn versetzt, schrieb immer eine halbe Stunde vor der Verabredung, es sei zu viel los im Büro, sie könne nicht weg, wie schade. Dann einen Tag später: Bist du böse auf mich? “Böse war ich nicht, aber bekümmert.”

Irgendwann fragt Meinhard sie, ob sie vielleicht gar nicht wirklich will. Ihn sehen. Ihn riechen, anfassen, schmecken. Seinen Schwanz bewundern, wie sie es immer geschrieben habe. Die Frau antwortet, ja, vielleicht stimme das, vielleicht sei ihr das Spiel letztlich lieber als die Realität. “Das hat mich getroffen.”

Wie gut lassen sich Liebe und Sex voneinander trennen?
© Matthias Seifarth

Nach der Anzeige schläft Meinhard mit vier Frauen, mit drei von ihnen immer wieder. “Es hätten aber deutlich mehr gewollt.” Das sagt er nicht angeberisch. Er faltet die Hände im Schoß und sieht wieder einige Minuten still aufs Wasser. “Soll ich ein Geheimnis verraten? Ich habe mich jahrelang geschämt, weil meine Frau mich nicht mehr berühren mag. Und nun, als Betrüger, wo ich mich schämen sollte, habe ich nicht mal ein schlechtes Gewissen.”

Es gibt einige Studien, die das Fremdgehen der Menschen untersuchen. In Umfragen geben 46 Prozent der Frauen und 53 Prozent der Männer an, ihrem Partner schon einmal untreu gewesen zu sein.

Studien dazu, wie einsam sich Menschen in einer gut gewachsenen Beziehung fühlen können, wie sehr gerade sie Berührungen vermissen, die gibt es nicht. Vielleicht weil das Problem so alt ist wie das Konzept der romantischen Liebe selbst. Vielleicht auch wegen der Scham. Wer gibt schon gerne zu, seit Jahren keinen Sex zu haben? Darunter zu leiden. Sich danach zu sehnen, begehrt zu werden. Sich hässlich zu fühlen. Fehlerhaft, wenn es die eigene Lust ist, die fehlt. Bescheuert, weil ja sonst alles da ist. Ungeliebt, nur weil man nicht miteinander schläft.

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