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Retromöbel: Die Dramaqueen am Bein

Wie wir uns einrichten und mit welchen Dingen wir uns umgeben, das
sagt genauso viel über uns aus wie die Kleidung, die wir tragen. In
unserer Serie “Innenleben” ergründen wir aktuelle Wohntrends.

Die Haarnadel ist bekannt für ihre Kurven, deswegen benennt das Wort auf Straßen vom Harz bis Sizilien eine scharfe Kehre. Ökonomischer lässt sich die Steigung einer Bergstraße nicht abfangen.
Aus dem ständigen Abbremsen und Beschleunigen ergibt sich zugleich eine
geheime Logik der Dynamik, die beständig neuen Schwung verspricht – wie das Design der Fünfziger- und Sechzigerjahre, das ja ebenfalls auf
effiziente Art bewegt aussehen sollte.

Die Möbel dieser Ära wirken
mobil im besten Sinne. Da droht keine schwere Schrankwand mehr – sie
sind easy zu verrücken und leichtgewichtig, da die Objekte zierlich
gestaltet wurden, aus sparsam als Furnier oder Sperrholz eingesetzten Hölzern

Dazu passen dann natürlich auch keine dicken Massivholzstampfer,
sondern schlanke, elegante, moderne Beine, die diese
Gestaltungsidee aufnehmen: Hairpin Legs aus gebogenem Metallrohr verleihen Anrichten und Vitrinen Schwung und Halt – überall da, wo den Entwürfen der ersten Nachkriegsjahrzehnte gehuldigt wird. Es finden sich momentan viele Möglichkeiten zwischen Kleinanzeige und Vintageportal, um diesem Midcentury-Stil zu frönen – mit seiner Mischung aus organisch geschwungenen und geometrisch geraden Elementen bedient er die Sehnsucht nach dem Design von gestern anscheinend gerade besonders gut. Doch sind die Hairpin Legs eigentlich so authentisch, wie sie aussehen?

Als ihr Erfinder gilt Henry P. Glass, der sie bereits 1941 in seine Gartenmöbel-Kollektion American Way integriert hatte. Die Idee, mit einem Minimum an Material auszukommen, war in Kriegszeiten naheliegend, brauchte dann aber noch ein bisschen Zeit, um mit neuem Freizeitgefühl umgesetzt zu werden.

Jedoch: Es gab die Haarnadelkurvenbeine in den Fifties und Sixties zwar für Hocker und Outdoormobiliar, für den Salon allerdings galten diese Verschlingungen ursprünglich als nicht elegant genug. Folglich entsprechen Kommoden, Sekretäre oder Bücherregale, die man heute ohne Ende erwerben kann, nur selten den Originalen: Die hatten entweder gleichförmige gerade, schwarz gestrichene Beine oder mit Messingkappe versehene, schräg nach außen neigende Holzbeinchen, die immer ein wenig an ein flüchtendes Reh erinnerten. Die Möbel sind wieder in Mode gekommen, diese Beine aber blieben auf der Strecke.

Darüber muss man nicht traurig sein, denn mangelnde Authentizität hat noch kaum einem Revival geschadet. Und besonders hier gilt: An den schönen Midcentury-Möbeln mit Nussbaumfurnier oder Senesche-Dekor oder den Teak-Anrichten der skandinavischen Moderne gibt es im Originalzustand eben meistens eins zu bemäkeln: Die Füße haben Macken. Es hinterlässt nun einmal Spuren, wenn man über ein halbes Jahrhundert bei jedem Staubsaugen dem Möbel an die Beine gerummst ist.

Weil sie so das wahre Alter verraten, wurden sie ersetzt, durch Hairpin Legs, die zwar alt aussehen, aber neu sind. Es gibt diese in allen Höhen, aus matt geschwärztem Stahl oder bunt
lackiert, zum einfachen Anschrauben und sogar mit Schraubzwinge,
damit sie ohne Gebohre eine Tischplatte stützen können. Die Haarnadelbeine verstärken das Paradoxon des
Retrostils: Das Midcentury gibt sich schlicht, ist dabei aber weniger sachlich, als man meint, und auch im
Schwung der Beine liegt eben eine gewisse Verspieltheit. 

So beweisen die Hairpin Legs, dass keine Mode genau so wiederkehrt, wie sie einmal gewesen ist. Schließlich sind wir hier nicht im Museum, sondern nur in der ewigen Retrokurve.

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