/Frauen in Europa: Die ersten europäischen Menschen

Frauen in Europa: Die ersten europäischen Menschen

Angesichts
der bevorstehenden Europawahl spricht man dieser Tage
viel über Europa und seine Geschichte. Und es fällt auf, dass diese Geschichte,
so wie man sie üblicherweise erzählt, nur von Männern gemacht worden zu sein
scheint. Sprechen wir von Europa, dann sprechen wir von den “Vätern”, den
“Gründervätern” der Union: Konrad Adenauer, Winston Churchill, Jean Monnet,
Robert Schuman. Wir erinnern uns an diese großen Männer, denen in der Tat zu verdanken
ist, dass diese, unsere Europäische Gemeinschaft existiert.

Frauen in Europa: Annabelle Hirsch, geboren 1986, ist Deutsch-Französin und lebt als freie Autorin in Paris. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".

Annabelle Hirsch, geboren 1986, ist Deutschfranzösin und lebt als freie Autorin in Paris. Sie ist Gastautorin von “10 nach 8”.
© Oliver Helbig

Bloß vergessen wir
dabei die Frauen
. Jene Frauen, die sich im 20. Jahrhundert nicht nur gegen die
soziale Ordnung der Geschlechter, sondern vor allem auch gegen die offenbar
überaus verlockende und nicht totzukriegende Versuchung des Nationalismus
auflehnten. Frauen, die aus der Erfahrung des Krieges einen unerschütterlichen
Glauben an Europa geschöpft und für seine Entstehung und Entwicklung gekämpft
haben.

Als am 17.
Juli 1979 das erste direkt gewählte Europäische Parlament aufgestellt wurde,
trafen zwei solche Frauen aufeinander: Simone Veil, die große französische
Politikerin
, die an jenem Tag zur ersten Präsidentin des Europäischen
Parlaments ernannt wurde. Und Louise Weiss, laut Helmut Schmidt die “Großmutter
der Europäischen Union”. Mit ihren 86 Jahren war Weiss die älteste
unter den frisch gewählten Abgeordneten und somit zur Alterspräsidentin
designiert worden. In dieser Rolle hielt sie die Eröffnungsrede und
wertete danach das Ergebnis der Wahl zur offiziellen Präsidentschaft vor der
Versammlung aus.

Man kann
diese Szene im Internet nachsehen. Weiss verkündet da in ihrem typisch schrillen Ton: “Madame Veil:
192 Stimmen. Madame Veil: Absolute Mehrheit.” Die überwiegend männlichen
Abgeordneten klatschen. Standing Ovations. Simone Veil steht etwas verlegen
auf, läuft zur Tribüne. Weiss, die in ihrem dunkelblauen Kleid zu dreireihiger
Perlenkette und rotem Ehrenlegion-Abzeichen wie die Queen höchstpersönlich
aussieht, gibt Veil die Hand, bevor diese, noch immer unter tosendem Applaus,
ihren Präsidentinnenplatz einnimmt. Als Veil dann schließlich “Madame Weiss”
dankt, stehen wieder alle auf und beklatschen die alte Dame. Bis zu ihrem
Tod vier Jahre später blieb sie Alterspräsidentin des Parlaments.

Die Freude der beiden Frauen muss an jenem Sommernachmittag groß gewesen
sein. Denn er markiert für Weiss wie für Veil einen Sieg, den Höhepunkt eines
lebenslangen Engagements – für Europa und für das Recht der Frauen. Bei Louise Weiss reicht dieses Engagement weit zurück. Sie hatte 1918, mit gerade einmal
25 Jahren, als Reaktion auf die Gräuel des Ersten Weltkriegs, die Wochenzeitung
L’Europe nouvelle gegründet, die sich leidenschaftlich für das Projekt
einer europäischen Vereinigung einsetzte. Große Denker und Politiker wie Thomas Mann, Aristide Briand, Léon Blum, Gustav Stresemann, Edvard Beneš schrieben für sie und ihr Blatt gelangte bald über die Grenzen Frankreichs zu Ruhm.

Simone Veil wiederum, die als 16-Jährige nach Auschwitz deportiert
worden war, die den Todesmarsch überlebte und im Holocaust Mutter, Vater und
Bruder verlor, begann sofort nach dem Zweiten Weltkrieg, sich
für eine schnelle Versöhnung mit Deutschland und eine lebendige
Erinnerungskultur einzusetzen.

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