/EU-Beitrittskandidat Türkei: Es kommt auch eine Zeit nach Erdoğan

EU-Beitrittskandidat Türkei: Es kommt auch eine Zeit nach Erdoğan

Es ist leider
schon öfter vorgekommen, dass ein europäischer Staat erst der EU beitritt und einige
Jahre danach die Demokratie demontiert. Neu ist dagegen, dass ein Land erst die
Demokratie abschafft und dann immer noch in die EU will. Dieser ganz besondere
Beitrittskandidat ist die Türkei. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat gerade die Bürgermeisterwahl
in Istanbul annullieren lassen
und damit die verfassungsmäßigen Restbestände
der türkischen Demokratie geschreddert. Eine Wahl erst nach allen Regeln der autoritären
Kunst zu manipulieren, trotzdem zu verlieren und danach die verlorene Wahl zu
annullieren, das ist in dieser Form in der EU undenkbar, selbst im illiberalen
Ungarn. 

Paradoxerweise
aber ist die Türkei immer noch ein Kandidat für den Beitritt. Es darf also
niemanden wundern, dass das Thema im Europawahlkampf hochkocht. Manfred Weber,
Spitzenkandidat der konservativen EVP
, wünscht sich “ehrliche Verhältnisse”. Würde
er zum EU-Kommissionspräsidenten gewählt, will er die Beitrittsgespräche
abbrechen
. Angesichts Erdoğans Drift ins Diktatorische wirkt dieser Kurs
vordergründig plausibel. Aber durchdacht ist er nicht. Es gibt gute Gründe
gegen Beitrittsgespräche mit der Türkei, es gibt aber auch sehr gute Gründe,
die Verhandlungen nicht komplett abzubrechen. Der Kampf um die
Beitrittsgespräche ist Teil der neueren türkischen Geschichte – und kreist um
die Frage, wo die Türkei eigentlich hinmöchte. 

Die Türkei hat
ihr Verhältnis zu Europa nicht geklärt. Die an der Oberfläche verwestlichten
Kemalisten waren immer für Europa, wenn es um äußere Stilfragen ging, aber
nicht bei den Grundrechten für alle Türken. Die konservativ-muslimischen Türken
feiern Europa, wenn es um Religionsfreiheit geht, doch lehnen es vehement ab,
wenn der EU-Fortschrittsbericht den Kurs der AKP-Regierung kritisiert. Die
Kurden sind Europafans, wenn es um ihre Rechte geht, fühlen sich aber den
Verwandten in Syrien und Irak oft näher als Europa. Keiner aber ist
widersprüchlicher in seinem Verhältnis zu Europa als der türkische Präsident.

Erdoğan war ein Reformer

Es war Erdoğan, der seinem Land 2004 den Weg zu Beitrittsverhandlungen öffnete. Der
damalige Premier drückte weitreichende Reformen durch, vor denen jede Regierung
zuvor zurückschreckte. Interessanterweise erweiterte er auch die Rechte der
Frauen. Und der Kurden. Und der christlichen Minderheiten. Der
muslimisch-konservative Politiker schaffte, woran alle säkularen Premiers vor
ihm gescheitert waren: die wichtigsten europäischen Politiker zu überzeugen,
dass die Türkei es wirklich ernst meinte mit den Pro-EU-Reformen.

Mit Gerhard Schröder und Jacques Chirac an der Spitze beschloss die EU 2004,
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. Mit Einschränkungen, die
kein anderer Beitrittskandidat je hatte: Nach Abschluss der langen
Verhandlungen muss jedes einzelne EU-Land dem Beitritt noch einmal zustimmen. Ein
Veto reicht, um die Türkei zu blockieren. Frankreich und Österreich haben sich
sogar Volksabstimmungen ausbedungen. Diese Notbremsen gelten noch heute.

Türkei als Teil europäischer Geschichte

Der Streit um
die Beitrittsverhandlungen bewegte damals auch die ZEIT. Ich selbst habe mit
Helmut Schmidt Ende 2002 in einem Pro und Contra auf unserer Seite eins darüber diskutiert:
Schmidt war gegen Verhandlungen, ich dafür. In der Situation von 2019 muss ich
zugeben, Schmidt hatte recht. Aber aus den falschen Gründen.

Helmut Schmidts
wesentliche Argumente waren: Die EU-Freizügigkeit für alle Türken würde die
Integration der Türkeistämmigen in Deutschland unmöglich machen, die Türkei sei
kulturell zu verschieden, ihre Interessen lägen zu weit östlich, ihr
politisches System sei zu sehr vom Militär überwölbt.

Mein Argument war, dass
Europa ein Synonym für kulturelle Unterschiede schlechthin sei. Die Türkei sei wie
die Muslime Südosteuropas stets Teil der europäischen Geschichte gewesen. Und
wenn Erdoğan die Türkei nach europäischem Muster reformiere, wäre es eine
historische Torheit, wenn die EU diesen in der muslimischen Welt beispiellosen
Elan abwürgte. Ich plädierte für Ermutigung durch Beitrittsverhandlungen. Es sollte
später Erdoğan sein, der mein Argument entkräftete.

Hits: 13