/“Die wandernde Erde”: Chinesen retten die Welt

“Die wandernde Erde”: Chinesen retten die Welt

In naher Zukunft wird die Erdoberfläche nicht mehr bewohnbar
sein. Die Menschheit wird sich in unterirdische Megametropolen zurückgezogen haben,
wo Lebensmittel rationiert werden, Polizei und Nachbarschaftskomitees den
Alltag organisieren und junge Menschen ihre Hoffnung auf ein besseres Leben
längst verloren haben. So oder ähnlich wird unsere Zukunft aussehen, wenn man
dem Film Die wandernde Erde des
chinesischen Regisseurs Frant Gwo Glauben schenkt. In China war er (mit umgerechnet 693 Millionen US-Dollar) einer der erfolgreichsten Filme überhaupt;
in zahllosen Ländern wird er als wichtigster Blockbuster des Frühlings beworben, Netflix sicherte sich die Streamingrechte für Europa und
Nordamerika – und so darf man sich von diesem Film vielleicht Auskunft
über die Lage der Menschheit im Jahr 2019 versprechen.

Und wirklich: Die
wandernde Erde
ist umwerfend. Chinas erster Scifi-Megahit kommt so wuchtig
daher wie ein echter Hollywood-Blockbuster, ist überwältigend groß, perfekt
getaktet, hier und dort leise melancholisch und an den richtigen Stellen
witzig. Das in gut zwei Stunden entworfene Bedrohungsszenario fühlt sich
drastisch zukünftig an und ist zugleich so verständlich, als könne es schon
morgen eintreten. Nur dass es diesmal nicht die Amerikaner sind, die uns alle
retten müssen, sondern die Chinesen.

Was passiert da also um das Jahr 2070? Unsere liebe, alte
Sonne ist im Begriff, sich aufzublähen und zu einem Roten Riesen zu werden. Die
Weltregierung beschließt deshalb, die Erde aus dem Sonnensystem hinauszubefördern
und ihr eine neue Heimstatt in 4,2 Lichtjahre Entfernung einzurichten. Rund um
den Globus errichtet man 10.000 Triebwerke, die die nötige Schubkraft für die
lange Reise freisetzen sollen. Da die Erdrotation angehalten wird, kommt es zu dramatischen
Temperaturstürzen und Überschwemmungen (deshalb die Untergrundstädte). Außerdem
gibt es gleich zu Beginn des Films eine Krise: Die Erde ist zu nah an den
Planeten Jupiter geraten und droht mit ihm zu kollidieren. Glücklicherweise
gelingt es einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Chinesen, ein Triebwerk so
umzubauen, dass es eine Explosion auf Jupiter auslöst und damit den nötigen
Rückstoß erzeugt, der die Erde wieder zurück auf den vorherberechneten Kurs gen
Proxima Centauri trägt.

Sicher, über die etwas forcierte Versuchsanordnung (die Erde
zum Auswandererschiff umgebaut) kann man sich mokieren; das Filmvergnügen
mindert das jedoch nicht. Der Regisseur hat alle Regeln des Genres verinnerlicht;
seine Geschichte leitet er nüchtern-wissenschaftlich ein und führt sie dann sehr
ökonomisch zum Höhepunkt. Die Zuschauer versinken schnell in einer
rätselhaften, gleißenden Bilderwelt: schier unendliche Eiswüsten, gigantische Hochstraßen, verschneite Flugzeugtrümmer, ein erfrorener Wal, hochaufschießende Feuerzungen. Wenn sich die Kamera wieder einmal von tief
drunten ins Weltall hinaufschwingt, raubt es einem fast den Atem; und dann
drehen sich die Raumstationen im kosmischen Wind und auf der Erde sind “Hunderte
der leuchtenden Plasmasäulen” zu erkennen, wie es in der Vorlage, der
gleichnamigen Kurzgeschichte von Liu Cixin heißt, ein “windschräger,
kosmischer Urwald”.

Dass Netflix plötzlich einen Blockbuster aus der
Volksrepublik China vertreibt, ist neu. Beworben wird Die wandernde Erde dort zwar nicht wirklich; dafür gibt es auf der
Webseite Roger Ebert 3,5 Sterne (von
vier) sowie einen wunderbar affirmativen Satz: “The future is here, and it is nerve-wracking, gorgeous, and Chinese.”

Was dieser chinesische Blockbuster bedeutet, wie viel kulturelle
und ökonomische Selbstermächtigung darin steckt, können wir in der
euro-atlantischen Welt kaum nachempfinden (im globalen Süden wird dies vielen
Menschen leichter fallen). Das Genre Scifi war ja einmal die Königsdisziplin
der gesellschaftlichen Modernisierung; nicht zufällig wurden in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts die ersten Prototypen der Futuristik in Ländern wie
Großbritannien oder Frankreich entwickelt. Im 20. Jahrhundert schien es, als
würde nur der Westen überhaupt die Voraussetzungen mitbringen, um technisierte
Zukunftsvisionen der Menschheit zu erzählen, schließlich brauchte es dazu doch
ein gehöriges Maß an Aufklärung und Wissenschaft, Industrialisierung, Nationalstaatlichkeit
und einen imperialistischen Expansionsdrang. Nur der weiße Mann, so verstand es
sich lange von selbst, ist überhaupt willens und fähig, Außerirdische in Schach
zu halten und ferne Planetensysteme zu erschließen.

Als vor gut 120 Jahren zum ersten Mal literarische Zukunftsvisionen
von Autoren wie Jules Vernes, Edward Bellamy und H.G. Wells in China rezipiert
wurden, geschah dies in einer geopolitischen Krisensituation: Ein zweitausendjähriges Reich sah seine Fortexistenz von europäischen Kolonialmächten in Frage gestellt. So kam es, dass
chinesische Denker und Gelehrte bei ihren Versuchen, von Fernost aus
zukünftige Welten zu entwerfen, die westlichen SF-Motive mit den eigenen
Existenzängsten verquickten. China sollte modern und stark sein; dazu mussten die
neusten Technologien aber erst einmal in einer neuen Gesellschaft ankommen. Zum Bespiel beschreibt der Roman Die neue Ära von
Biheguan zhuren (aus dem Jahr 1908) einen Krieg zwischen China und dem Westen, der
sich im Jahr 1999 ereignet; und natürlich trägt China den Sieg davon, eine
Supermacht mit einer Billionen Menschen, außerdem eine hochentwickelte,
parlamentarische Demokratie. Dass in dieser Zukunftsvision U-Boote noch von
Krokodilen gezogen werden müssen und die chinesische Marine auf Tauben
angewiesen ist, um Eilbriefe zu transportieren, ist dann eher nebensächlich. Sogar
an die Fingierung einer Mondfahrt haben sich Chinesen damals schon getraut: in Huangjiang
Diaosous Geschichten aus der Mondkolonie
von 1904.

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