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Anna Sorokin: Nach unten kommt man immer

Retired Intern heißt ihr aktueller Status auf Instagram: Praktikantin außer Dienst. 65.000 Follower hat Anna Sorokin, sie selbst folgt nur drei Accounts. Denn sie wollte ja immer “Akteurin sein, nicht nur Schaulustige”, wie ihr Anwalt Todd Spodek das formuliert hat. Sorokin mochte den gehobenen New Yorker Lebensstil nicht bloß auf perfekten Bildern konsumieren – sie wollte Teil dieser Welt sein. Dabei sind am Donnerstag mindestens vier Jahre Haft bei guter, bis zu zwölf Jahre bei schlechter Führung herausgekommen.

Anna Sorokin hatte sich mehrere Jahre lang in der New Yorker High Society, in Kunst- und Investorenkreisen, auf Empfängen und gegenüber Freunden und Arbeitskollegen als Anna Delvey ausgegeben – Tochter eines russischen Oligarchen, künftige Millionenerbin, stylische Unternehmerin. Die Céline-Brille, die Gucci-Schuhe, die Kleidungsstücke von teuren Marken wie Victoria Beckham und Saint Laurent vollendeten das Bild, an dem alles fake war.

Um mehr als eine Viertelmillion Dollar soll sie mit Schnorren und Scheckfälschungen ihre Opfer betrogen haben, “eine Summe, die vielleicht gerade so reicht, um ein kleines Studioapartment in Queens zu kaufen”, wie die New York Times kommentierte. Das Zitat wirkt so zynisch wie der ganze Fall – und zeigt doch: Teilhabe ist meistens reine Fiktion, das Geld reicht dafür einfach nicht.

Dabei ist Teilhabe der treibende Motor unserer Ökonomie; sie lässt junge Menschen in Agenturen und Start-ups in New York, Berlin und London für schmalen Lohn von einem Platz an der Sonne träumen. Sie finden ihn bei Anna Sorokin auf Instagram, wo sie unter anderem helle, schöne Bilder von einer Villa in Marokko postet, in der die Übernachtung mehrere Tausend Dollar die Nacht kostet.

Fake it till you make it: Das funktioniert eben nicht nur beim Clan der Kardashians, die sich das Berühmtwerden vergolden lassen haben. Sondern, heruntergebrochen auf den Mittelstand mit Parvenü-Allüren, eben auch bei Anna Sorokin, geboren in Moskau, zur Schule gegangen in Eschweiler, abgebrochenes Studium an der Modeschule Central Saint Martins in London, in New York angekommen mit nichts außer dem Ehrgeiz, sich selbst neureich zu erfinden.

Anna Sorokin ist als Hochstaplerin spektakulär aufgeflogen – als Spiegelbild einer Gesellschaft, die von allzu viel Realität ohnehin schnell ermüdet. Selbst das Außergewöhnliche und Reizvolle ist durch einen ständigen Beschuss von Bildern und Wow-Momenten zum Banalen geworden, jede Reaktion unterhalb von amazing oder exciting wäre eine Enttäuschung. Dahinter verblasst die Erfahrung von Realität in dem Maße, dass sie beinahe zweitrangig wird. Was uns definiert, als Koordinaten der eigenen Identität, ist kaum mehr zu fassen. Es ist abgelegt auf Servern, doch nicht im wirklichen Leben.

Nun ist Sorokin das Symbol dafür geworden, dass dieser Lifestyle längst etwas Notorisches oder Pathologisches bekommen hat. Dass er eine Fiktion ist und zur (Selbst-)Ausbeutung verleitet. Von der Glitzerwelt der High Society bleiben jene ausgeschlossen, die ohne das nötige Kapital anreisen. Wer es dennoch versucht, der wird abgestraft. Wer bereits zu den Mächtigen gehört, der kommt mit dem Schrecken davon. Die Schuldigen der globalen Finanzkrise von 2008, überwiegend Männer, wurden kaum behelligt. Auch der Staatsanwalt Cyrus Vance jr., der Sorokin nun hinter Gitter gebracht hat, ließ in der Vergangenheit immer wieder prominente Männer trotz Hinweisen auf kriminelle Handlungen laufen: darunter Donald Trump, Harvey Weinstein und Dominique Strauss-Kahn.

Wie einsam sah Sorokin aus, als sie dort im Gerichtssaal in New York saß, angekleidet von der Promi-Stylistin Anastasia Walker, so unbedarft, trotzig und unmündig wie ein Kind, jedes Detail reiner Content, der verlinkt werden könnte. Andy Warhol prägte mal den berühmten Satz: “In Zukunft wird jeder 15 Minuten weltberühmt sein.” Was danach kommt, das sagte Warhol nicht. Die Ahnung aber, dass es das große Nichts ist, verkörpert Anna Sorokin perfekt.

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