/“Europe talks”: Europa, im Streit vereint

“Europe talks”: Europa, im Streit vereint

Am kommenden Samstagmorgen wird sich ein griechischer Mathematiker in sein Auto setzen und nach Sandanski im Süden Bulgariens fahren. Etwa zwei Stunden wird er unterwegs sein. Er will in Bulgarien eine Sachbearbeiterin aus der Nähe von Sofia treffen, um mit ihr über die Frage zu diskutieren, ob die EU das Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger besser macht. Der griechische Mathematiker findet: Nein. 

Etwa zur gleichen Zeit wird ein Unternehmensberater aus Prag an die deutsche Grenze fahren. Sein Ziel: ein Café auf einer Anhöhe, von der man fast bis nach Deutschland blicken kann. Er ist dort mit einer Rentnerin aus Sachsen zum Kaffee verabredet. Sie ist strikt dagegen, dass die Länder Europas wieder nationale Grenzkontrollen einführen. Im Gegensatz zu ihm.

In den Niederlanden setzt sich eine junge Ingenieurin in den Zug und trifft in Eindhoven einen belgischen Studenten. In Italien fährt ein Rentner zu einem Ort am Gotthardtunnel, um einem Schweizer zu begegnen.

Eine Lettin reist nach Helsinki. Ein Brite in die französische Provinz. Und eine Ungarin an die österreichische Grenze.

Tausende Gespräche über Europas Grenzen hinweg

Sie alle sind Teil eines Experiments, das in dieser Art zum ersten Mal in Europa stattfindet: Es nennt sich Europe Talks – Europa spricht. Die Idee: Tausende Europäerinnen reisen aufeinander zu oder verabreden sich zum Videotelefonat und diskutieren von Angesicht
zu Angesicht über Europa. 

Zur Teilnahme an Europe Talks aufgerufen hat ZEIT ONLINE gemeinsam mit 15 europäischen Partnermedien, darunter die Financial Times in Großbritannien, das junge Medium Efsyn aus Griechenland oder die Tageszeitung Helsingin Sanomat aus Finnland. Sie alle haben ihren Leserinnen und Lesern die gleichen sieben kontroversen Ja-/Nein-Fragen zu aktuellen politischen Themen gestellt. Und sie anschließend gefragt, ob sie diese nicht mit einer anderen Europäerin oder einem anderen Europäer diskutieren wollen. 

Mehr als 21.000 Menschen aus 33 Ländern haben sich für die Aktion registriert. Rund 16.200 Teilnehmende haben dabei alle notwendigen Angaben gemacht, damit sie in ein Gespräch vermittelt werden konnten. Ein von ZEIT ONLINE entwickelter Algorithmus hat diese Gruppe in möglichst perfekte
Streitpaare unterteilt. Ein solches Paar besteht je aus
zwei Europäern, die möglichst in benachbarten Ländern leben, aber möglichst viele der sieben Fragen unterschiedlich beantwortet haben. Knapp 14.700 Menschen konnten wir auf diese Weise einen Gesprächspartner oder eine Gesprächspartnerin vorstellen. Die übrigen Anmeldungen waren fehlerhaft oder ungültig.


16.227


Teilnehmer


8.113 mögliche Gesprächspaare

Wer sind diese Europäerinnen? Und was denken sie über einige der großen Fragen, die Europa derzeit zu spalten drohen? Um das zu beantworten, haben wir die Angaben der Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Europe Talks anonymisiert ausgewertet.

Wer sind die Teilnehmenden von Europe Talks?

Aus 33 Ländern haben sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer angemeldet. Das sind mehr Staaten, als die EU Mitgliedsländer zählt. Zwei der Diskutanten von Europe Talks wohnen in Island, zwei in Russland und einer in Liechtenstein. Die meisten kommen aber aus Deutschland, Österreich, Italien, Belgien, Großbritannien und Finnland. Diese sechs Länder stellen mehr als die Hälfte aller Diskutanten. 

Das Durchschnittsalter liegt bei 42,7 Jahren – etwas niedriger als das Durchschnittsalter in allen EU-Staaten. Die jüngsten Teilnehmenden sind 18 Jahre alt, der älteste Teilnehmer 91. Rund 30 Prozent alle Teilnehmenden sind weiblich, 70 Prozent sind männlich.


42,7


Jahre


Durchschnittsalter

0,3 Prozent haben ein anderes Geschlecht eingetragen,
1,1 Prozent haben keine Angaben gemacht

Worüber streiten Europäer bei Europe Talks?

Viele der Fragen, die wir gestellt haben, werden in den Ländern der EU kontrovers diskutiert: Sollten alle europäischen Länder wieder strenge Grenzkontrollen einführen? Hat Europa zu viele Migranten aufgenommen? Ist eine höhere Steuer auf Benzin notwendig, um das Klima zu retten?

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Europe Talks sind sich in vielen der von uns gestellten Fragen vergleichsweise einig: Für strengere Grenzkontrollen sind lediglich rund 19 Prozent. Etwa 25 Prozent finden, in Europa lebten zu viele Migranten. Eine große Mehrheit von 91 Prozent ist der Ansicht, dass die EU das Leben ihrer Einwohnerinnen und Einwohner verbessere. Und immerhin rund 80 Prozent würden ihren nationalen Pass gegen einen europäischen eintauschen. Die Teilnehmenden sind also tendenziell europafreundlich und vertreten in innenpolitischen Fragen mehrheitlich liberale Ansichten.   

Umstritten sind hingegen andere Themen: Jeder dritte Teilnehmende ist gegen eine Erhöhung der Steuern auf Benzin für den Klimaschutz. Und fast die Hälfte der Diskutanten findet, Europa sollte engere Beziehungen zu Russland pflegen. Die Frage nach unserem Verhältnis zu Russland ist damit die kontroverseste Frage von Europe Talks.

Antworten alle Länder ähnlich?

Auch zwischen den Ländern Europas unterscheiden sich die Antworten zum Teil erheblich. In Italien etwa sind im Vergleich zu anderen EU-Ländern mehr Teilnehmende für striktere, nationale Grenzkontrollen in Europa, insgesamt rund 40 Prozent. Auch sind im Vergleich mehr italienische Teilnehmende der Ansicht, dass zu viele Migranten in Europa leben.

In Griechenland sind fast alle Diskustanten der Ansicht, dass reichere Staaten in der EU ärmere EU-Länder unterstützen sollten – egal, ob sie in den anderen Fragen eher liberale oder eher konservative Positionen vertreten haben. In anderen Ländern beantworten konservative Teilnehmende diese Frage fast durchgehend mit “Nein”. Griechenland ist noch in einer anderen Frage auffällig: Nur die Hälfte der griechischen Teilnehmenden ist der Meinung, die EU verbessere das Leben ihrer Bürger. In allen anderen Ländern sind es mehr als 80 Prozent.

Die Teilnehmenden aus dem Nicht-EU-Land Norwegen sind weit weniger geneigt, ihren nationalen Pass gegen einen europäischen Pass einzutauschen. Die Hälfte der Befragten wäre dazu nicht bereit. In fast allen anderen Ländern antwortete eine große Mehrheit auf diese Frage mit “Ja”.  

Vor allem in der Russland-Frage gibt es zwischen den Ländern von Europe Talks große Unterschiede. In Griechenland, Norwegen, Finnland oder Deutschland sind vergleichsweise viele Menschen der Meinung, Europa solle engere Beziehungen zu Russland unterhalten. In den ehemaligen Sowjetstaaten Polen, Tschechien und Lettland lehnen die meisten Diskutanten das ab. 

In fast allen Ländern lassen sich die Teilnehmenden in drei Lager aufteilen. Im ersten und zweiten Lager sind die Diskutantinnen und Diskutanten weltoffen, für europäische Solidarität und für eine Klimasteuer. Was sie spaltet, ist die Frage einer engeren Beziehung zu Russland, die einen sind dafür, die anderen dagegen. Die meisten der Teilnehmenden aber gehören zum dritten Lager. In dieser Gruppe kommen alle möglichen Antwortkombinationen vor: zum Beispiel ein Ja zu mehr Solidarität innerhalb der EU und ein Ja zu strikteren Grenzkontrollen.

Letten und Griechen antworten am unterschiedlichsten

Unser Algorithmus hat diese drei Gruppen nun tausendfach miteinander verbunden. Am kommenden Samstag um 15 Uhr treffen die europäischen Diskutanten aufeinander: der griechische Mathematiker und die bulgarische Sachbearbeiterin, die junge Ingenieurin aus den Niederlanden und der Student aus Belgien. Ihre Gespräche könnten Europa verändern. Frage für Frage.

“Europe Talks” wird unterstützt durch das Auswärtige Amt, die European
Cultural Foundation, die Allianz Kulturstiftung, die Stiftung Mercator
und die Evens Foundation. Hier finden Sie in den kommenden Tagen alle Geschichten rund um “Europe Talks”.

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