/Biennale in Venedig: Der Grusel der Gegenwart

Biennale in Venedig: Der Grusel der Gegenwart

Der Titel klingt bedrohlich. Und soll es auch sein:
May You Live in Interesting Times“. Er zitiert ein Sprichwort, wenn
nicht gar einen Fluch aus dem alten China, den wiederum der lange Zeit
in Asien wirkende britische Diplomat Sir Austen Chamberlain in den
späten 1930er Jahren überlieferte, um das Chaos seiner eigenen Zeit in
Worte zu fassen.

Nicht viel anders empfinden wir es heute: Trump in den USA, Bolsonaro
in Brasilien, Rechtsruck allenthalben, Klimaveränderungen, der Brexit.
Mit einem mokanten Unterton könnte man auch unsere Zeiten als
“interessant” bezeichnen. In der Kunst sind sie es allemal. Die Biennale
di Venezia will wie alle zwei Jahre erneut den Beweis dafür erbringen,
auch wenn das Adjektiv “interessant” im Kunstbetrieb ansonsten als
gönnerhaft gilt.

Ralph Rugoff,
diesmal der Kurator der Internationalen Kunstausstellung, die das
Rahmenprogramm für die Internationalen Pavillons in den Giardini und an
verschiedenen Standorten in der Stadt bildet, hat seiner Schau den Titel May You Live in Interesting Times verliehen, um dem Zeitgeist
nachzuspüren. Tatsächlich geht ein gewisser Grusel von so manchem
Kunstwerk aus, Härte, Schlagfertigkeit, aber auch Poesie, Schönheit,
Melancholie.

Vom Pekinger Duo Sun Yuan und Peng Yu stammt ein Schlüsselwerk der
Ausstellung mit dem Titel Can’t Help Myself: ein Industrieroboter,
dessen gewaltiger Hebearm einen überdimensionalen Pinsel schwingt, der
vergeblich blutrote Farbe rundum am Boden aufzuwischen und wieder neu zu
verteilen sucht. Mal sind die Bewegungen ballettös, mal abrupt, ja
brutal. Vor allem bedrohlich.

Der Künstler als moderner Sisyphos

Die
beiden chinesischen Künstleringenieure Yuan und Yu brachten ihrer
mobilen Skulptur insgesamt 32 verschiedene Bewegungen bei. Immer wieder
klatscht Farbe an die Fenster des gläsernen Käfigs, in dem sich der
Roboter schwungvoll um seine eigene Achse dreht und vor dem das Publikum
gebannt stehen bleibt. Das Werk stellt eine Metapher nicht nur für
unsere Gegenwart, sondern auch den Künstler als moderner Sisyphos dar,
der permanent liefern muss und malt und malt. Mitleid bekommt man
trotzdem nicht mit ihm – weder mit der Maschine noch mit den Menschen im
Ausstellungsbetrieb. Dafür ist diese Szene viel zu schick.

Wer
in der Kunstwelt auf sich hält, reist bereits zu den drei
Vorbesichtigungstagen der Biennale an, die bis zur offiziellen Eröffnung
für das Publikum am 11. Mai stattfinden. Seitdem für die professionelle
Preview der Kuratoren, Künstler und Kritiker Eintrittskarten für
mehrere hundert Euro käuflich zu erwerben sind, um die Kasse der
Biennale aufzubessern, kommt der Jetset hinzu. Gucci, Prada, die
Edelmarken drängen sich in den Sälen, werden zur Kunst ausgeführt. Die
Biennale ist immer auch Laufsteg.

Dem
kritischen Geist der Kunst, der Leistungsshow in den nationalen
Pavillons widerspricht dies nicht. Neunzig Länder nehmen in diesem Jahr
teil, zum ersten Mal Ghana, Madagaskar, Malaysia und Pakistan. Für die
Newcomer stellt das Parkett in Venedig eine Gelegenheit zur
Selbstdarstellung dar. In der Kultur können sie anders punkten, obwohl
die großen Nationen USA, Großbritannien, Frankreich, Russland und
Deutschland mit ihren traditionellen Pavillons in den Giardini wieder
die Platzhirsche sind.

Für die Kunst bleibt die
Biennale in Venedig ein Widerspruch, wenn auch ein produktiver:
Einerseits versteht sie sich als transnational, woher ein Künstler
kommt, wo eine Künstlerin lebt und arbeitet, ist längst sekundär,
andererseits werden ihre Werke zur Repräsentation in den Dienst
genommen.

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