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Identitätspolitik: Links oder rechts

Hat man früher besser zugehört? Oder war man mit politischen
Unterstellungen weniger schnell bei der Hand? Etwas Befremdliches vollzieht sich derzeit in
Deutschland; und nicht nur dort. Argumente verlieren in der öffentlichen Debatte jedes Gewicht
und wandeln sich zu bloßen Erkennungszeichen, nach denen man die Sprecher einem linken oder
rechten Lager zuweist, ganz unabhängig davon, ob dies ihrem Selbstverständnis entspricht oder
der logischen Konsequenz der Argumente. Irgendetwas gegen Gendersternchen vorgebracht? Das
muss ein Rechter sein. Irgendetwas zugunsten von Flüchtlingen gesagt? Das muss ein Linker
sein. Windkraft oder Elektromobilität angezweifelt? Rechts. Multikulturalismus gelobt?
Links.

Und so weiter, in öder, wenngleich hasserfüllter Mechanik. Dass auch Umweltschützer gegen alternative Energie- und Antriebsquellen sprechen könnten, wird genauso ausgeschlossen wie die Möglichkeit, dass einem konservativen Verständnis von Individualrechten die kulturelle Divergenz der Bürger kostbar sein müsste. Und apropos – sollte nicht jeder praktizierende Christ, auch der reaktionärste Katholik, in dem Anti-Islamismus die Religionsfeindschaft erkennen, die ihn selbst bedrohen würde?

Nein, das sollte er nicht mehr. Jedenfalls nicht nach der neuen Stimmungslage, die jede Verwirrung der Fronten zu unterbinden trachtet. Unabhängigkeitsbewegungen werden von links unterstützt, auch wenn sie stramm nationalistisch sind. Der unbeschränkte Welthandel wird von den Unionsparteien gefordert, obwohl er ihr geliebtes Heimatbrauchtum gefährdet. Der herrische Ausschluss von skeptischen oder dritten Positionen zwischen den Lagern erinnert an Heeresdisziplin und Propaganda in Kriegszeiten. Vermittler gelten als Verräter; haben sie einmal einen Gedanken geäußert, der auch aus Feindeslager stammen könnte, werden sie als Überläufer verfolgt. Im militärischen Vokabular der griechischen Antike hießen Überläufer übrigens
automoloi
– Leute, die sich selbst bewegen –, ein höchst sprechender Ausdruck, der fast besser noch auf unsere zivil hochgerüstete Debattenlage passt. Eigenständige Gedankenbewegungen über die politischen Linien hinweg werden nicht geduldet.

Vielleicht ist es eine nostalgische Täuschung, dass dies jemals anders war. Aber zumindest die Hysterie, mit der das aktuell eingebildete Eigene verteidigt wird, hat zugenommen, und jedenfalls gab es eine Zeit, in der nicht alle Argumente sofort und umstandslos nach links oder rechts sortiert wurden. Bestimmte prinzipielle Fragen, zum Beispiel nach Sinn und Nutzen von Sprachregelungen, fanden ihre Antworten überhaupt nicht nach politischen Lagern. Man konnte über Sprachpolitik sowohl von links wie von rechts kritisch befinden – von rechts, weil man Gesinnungspädagogik und Umerziehungsstrategien ablehnte, und von links, weil es in marxistischer Sicht keinen Sinn machte, am Überbau herumzudoktern, wenn an der ökonomischen Basis nichts geändert wurde.

Das ist vorbei. Ein Marxist, der sich solchermaßen ablehnend über Gendersternchen oder die euphemistische Verschleierung von Unterdrückungsverhältnissen äußert, gilt schon gar nicht mehr als links – sondern als rechts, insofern er in unterstellter Emanzipationsfeindlichkeit mit den Rechten gemeinsame Sache zu machen scheint. Und umgekehrt gilt ein Konservativer sogleich als links, wenn er nur andeutet, dass Political Correctness womöglich einfach ein Gebot von Höflichkeit und Menschlichkeit sein könne.

Ein Für und Wider, das man abwägen könnte, wird heute nicht mehr akzeptiert. Gilt das freie Nachdenken am Ende als wehrkraftzersetzend? Es scheint, als befänden sich nicht nur die Parlamentsparteien, sondern auch die akademischen Milieus in einem steten Wahlkampfmodus. Das Streitklima an den Universitäten wird von Hass und Denunziationen bestimmt. Selbst die intellektuelle Klasse – die ursprünglich und eigentlich argumentierende Klasse – behandelt Argumente nur noch wie Meinungen und diese als unveränderliche, immer verdächtige Brandzeichen einer politischen Identität.

Über Brandzeichen kann man allerdings nicht diskutieren, sie sind streng genommen gar nicht frei gewählt, sie markieren eine Herdenzugehörigkeit und damit fast schon so etwas wie ein Lebensgefühl im vorlogischen Raum. Man gehört zu einer Herde, also nicht zu der anderen, und folgt dem dumpfen Trommeln der Hufe. Internet in Gefahr? Lagen dort nicht einmal die Weide- und Wasserplätze der Linken? Und damit ist schon ausgemacht, dass zur gegnerischen Herde der Rechten gehört, wer das Urheberrecht im Netz durchsetzen will. Wer umgekehrt die Raubkopiergewohnheiten verteidigt, darf sich als links verstehen, auch wenn er damit den Internetgiganten einen Profitdienst erweist. Letzteren Verdacht auszusprechen gilt sogar als gesteigert rechts, obwohl gerade diese Gedankenfigur – sich nicht zum “Steigbügelhalter des Kapitals” machen zu dürfen – einst zum klassischen rhetorischen Arsenal der Linken gehörte.

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