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Karl Lauterbach: Nie wieder einsam

In den Siebzigerjahren hat der Schriftsteller Kurt Vonnegut ein Buch geschrieben, in dem ein Politiker mit der Behauptung in den Wahlkampf zieht: Wer ihn wähle, der sei nie wieder einsam. Vonneguts Buch war eine Satire über die Zeit von Richard Nixon, und das mag ein wenig lang her sein. Das Versprechen seiner Romanfigur indessen kehrt seit einer Weile recht unsatirisch wieder zurück, sogar unter bereits gewählten Politikern.  

Vor knapp einem Jahr hatte die britische Ministerpräsidentin Theresa May angekündigt, ein Ministerium für Einsamkeit zu errichten, was in Europa auf große Resonanz stieß. In Deutschland meldete sich daraufhin der SPD-Gesundheitsbeauftragte Karl Lauterbach und fand, über so eine Behörde oder einen Beauftragten sollte man auch hier nachdenken. Schließlich seien die Folgen der Einsamkeit für die persönliche Lebenserwartung und, bitte nicht vergessen, die Krankenkassen ungefähr so schädlich wie starkes Rauchen. 

Lauterbach hat sich vor wenigen Tagen erneut in diesem Sinn geäußert, was wiederum begeistert aufgegriffen wurde. Von einer “Einsamkeitsepidemie” war schnell die Rede, und wo Epidemien festgestellt werden, muss man alles dafür tun, sie zu heilen. So weit von Kurt Vonneguts Fiktion war man spätestens jetzt nicht mehr entfernt. Das Wort Einsamkeit in seiner zeitgenössischen, also vorrangig traurigen Bedeutung besitzt zweifellos einen Vorzug für moderne Politik, die so gern auf die Mobilisierung von Emotionen zielt. Immerhin ist kaum ein anderer Begriff in den vergangenen Jahrzehnten derart besorgt sentimentalisiert worden. Seit die Psychologie den Begriff der Philosophie entrissen hat, welche die Einsamkeit noch – idealisierend – als Seinsveredelung verstanden hatte. Seit der Single von der autonomen, selbstbestimmten Sozialfigur zum Problemfall geworden ist, um den sich ein Dauerstuhlkreis aus Beziehungsratgebern, haltlos publizierenden Therapeuten und Lifestyleautoren kümmert. Seit Individualismus wieder ein wenig verdächtiger geworden ist und sich die Behauptung durchgesetzt hat, wir seien alle nur noch von Narzissten umstellt, und man immer jemanden findet, der diesem Befund etwas zu laut zustimmt.   

Die Klage über die Vereinsamung ist auch die Begleitmusik einer Kritik an der Moderne, die seit ihrem Anbeginn existiert, als man gegen die Verstädterung und ihre vermeintliche Anonymität anwetterte, gegen die Medialisierung und natürlich die Abkehr von Gott und Bibel und heiliger Ehe. Und die Verlustmeldung von traditionellen Familien- und Beziehungsvorstellungen gehört spätestens seit 68 zum Basisrepertoire konservativer bis reaktionärer Zeitdiagnosen, die allerdings selbst viel auslassen müssen, um behaupten zu können, es sei früher, im großfamilienseligen, verheirateten, vermutlich auch ländlichen Leben, weniger einsam und trostlos zugegangen als heute. Dafür genügt schon ein Blick in die bürgerliche Literatur des 19. Jahrhunderts. 

Wo bleibt das Sonder-Einsamkeits-Kommando?

Das Neue in der langen Karriere der Einsamkeit ist nun ihre politische Instrumentalisierung, die ja implizit ein Durchgriffsrecht auf den Seelenhaushalt seiner Bürger vorspielt, das man keiner freien Gesellschaft wünschen kann, will sie denn eine bleiben. Es fiele jedenfalls nicht leicht, ernst über denkbare Kampagnen zu diskutieren, man käme schnell etwa auf ein Sonder-Einsamkeits-Kommando, das die Tür eintritt und sich mit Knabbereien und Brettspielen in die Wohnung setzt, falls man sie selbst zu lange nicht verlassen hat. Einsamkeitsministerium, es klingt wie aus Harry Potter.

In der Debatte, die sich aufmerksamkeitsheischend auf den schillernden Gehalt des Wortes fixiert, verstellt sich der Blick auf viele Ursachen und strukturelle Gründe heutiger Vereinzelung und sozialer Isolation. In vielen Fällen sind die nun sogenannten Einsamkeitsschäden auch Folgen politischer Entscheidungen: entvölkerte Dörfer, Verelendung von sozialer Struktur in Innenstädten, Verdrängung an Stadtränder, Abbau von Nahverkehr auf dem Land, Deregulierung des Arbeitsmarkts.   

Wer also beklagt, dass so viele Menschen heute allein wohnen (was ja zunächst nicht bedeutet, dass sie einsam sind), könnte sich doch über Mietpreise und Wohnungsbau unterhalten, über Stadtplanung und öffentliche Begegnungsräume, die nicht schon zur Shoppingmall umgebaut wurden, wo Menschen nur noch als Kunden existieren. Wer die Beziehungslosigkeit und Kontaktarmut älterer Menschen anspricht, könnte über den Zustand der Pflege reden, über Betreuungsschlüssel und Bezahlung von sogenannter Care-Arbeit und die Auswirkungen ihrer gewinnorientierten Privatisierung. Und der amerikanische Soziologe Vance Packard hat bereits vor Jahrzehnten auf den Zusammenhang zwischen dem Mobilitätszwang moderner Volkswirtschaften und Vereinzelungsgefühlen hingewiesen. Im Übrigen war es auch die SPD, also Lauterbachs Partei, die das Ideal besinnungsloser Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt politisch installierte, deren Folgen sie jetzt offenbar selbst hinterherläuft.   

All das heißt absolut nicht, dass es nicht etliche Menschen gibt, die unter ihrer Einsamkeit leiden, und dass dies kein Problem ist. Es heißt vielleicht aber, dass man lieber über das reden sollte, worauf man tatsächlich einen Zugriff hätte, anstatt Gefühlspolitik zu betreiben, die sich als Fürsorge tarnt.

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