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Italien: Die heilige Familie

Es
ist nicht so, als seien Italienerinnen nicht abgehärtet. Aber kommt man in
Italien derzeit auf das Thema Familie zu sprechen, ist die Stimmung doch recht
erhitzt. Ein Video, das vor einigen Wochen viral ging, bringt
es auf den Punkt: Schauplatz ist ein Saal im römischen Rathaus, in dem
Parteimitglieder der Lega Nord – viele Männer und einige wenige Frauen – für
eine Konferenz zusammengekommen waren, um einen neuen Gesetzentwurf zu
diskutieren. “Hände weg von der traditionellen Familie!”, schreien sie den
Menschen entgegen, die gegen die Veranstaltung protestieren. Einer der Männer
steht wutentbrannt auf und beginnt, demonstrierende Frauen in Richtung Ausgang
zu schubsen. Als er von Journalist*innen zurückgehalten wird, springt ihm ein
Parteikollege bei: “Ihr habt doch alle zehn verschiedene Liebhaber. Haut ab,
ihr Schlampen!”

Italien: Charlotte von Lenthe, geboren 1988 in München, hat Politikwissenschaft in Wien, Rom und Berlin studiert. Derzeit arbeitet sie im Lektorat des Hanser Verlags. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".

Charlotte von Lenthe, geboren 1988 in München, hat Politikwissenschaft in Wien, Rom und Berlin studiert. Derzeit arbeitet sie im Lektorat des Hanser Verlags. Sie ist Gastautorin von “10 nach 8”.
© privat

Der
Ton ist also – gelinde gesagt – harsch. Der ursprüngliche Grund für den
Zusammenstoß zwischen Lega Nord und Demonstrierenden war aber ein anderer: Der Gesetzentwurf zum Thema Familie, der am kommenden Dienstag
vom Justizausschuss des Senats geprüft werden soll, ist ein Frontalangriff
auf mühsam errungene Rechte und nicht nur unter Feministinnen höchst
umstritten. Der Entwurf will Scheidungen ganz offenbar so schwer wie möglich machen – das zugrundeliegende Weltbild ist mehr als konservativ. In einer
verpflichtenden, kostenintensiven Familienberatung sollen betroffene Paare einen “Erziehungsplan”
erarbeiten, der zukünftige Urlaubsorte oder die Schullaufbahn der Kinder
definiert. Die Zeit, die Kinder nach einer Scheidung bei den Eltern verbringen,
soll genau aufgeteilt werden – mindestens zwölf Tage pro Monat pro Elternteil.
Das zuständige Elternteil trägt in diesem Zeitraum die finanzielle Verantwortung
für das Kind; Unterhaltszahlungen entfallen damit weitgehend. 

Abgesehen
davon, dass es absolut realitätsfern ist, Kindheit und Jugend einem Plan zu
unterwerfen, stellt diese Vorgehensweise vor allem für den oder die finanziell
schlechter gestellte*n Partner*in – meist die Frau – eine erhebliche
Belastung dar. Viele werden unter diesen Umständen vermutlich eine Scheidung scheuen. Expert*innen befürchten auch, dass Entscheidungen, die bisher vor Gericht
landeten, in die Hände bezahlter Coaches gelegt würden. Man muss sich das mal
vorstellen: Opfer häuslicher Gewalt müssten – per Gesetz verordnet – gemeinsam
mit dem gewalttätigen Ehepartner zur Mediation.

Erarbeitet hat den Entwurf der auf Familienmediation
spezialisierte Anwalt und Senator Simone Pillon (Lega Nord), unterstützt durch den “Verein getrennter Väter”. Seine Haltung zum Thema fasst
Pillon in dem oben erwähnten Video selbst recht gut zusammen: “Das einzige, was
funktioniert, ist ein Mann und eine Frau, die sich lieben.” Er ist außerdem überzeugt von dem Konzept der “Eltern-Kind-Entfremdung”, ein Ansatz, der übrigens
wissenschaftlich keine Unterstützung findet: Ein Kind, das sich weigert, einen
Elternteil zu sehen oder das andere “Entfremdungsanzeichen” zeigt, sei demnach
vom anderen Elternteil manipuliert.
Pillon will Richter*innen die Möglichkeit einräumen, “die elterliche Verantwortung”
des “entfremdenden Elternteils”
einzuschränken oder ihm diese sogar zu entziehen. Konkret bedeutet das: Wollen
eine Frau oder ein Kind eine Gewalttat des Vaters melden, dann wären sie erst
einmal mit der Unterstellung konfrontiert, dass sie lügen (die Frau) oder
indoktriniert wurden (das Kind).

Die Empörung über diesen aggressiven Vorstoß ist groß: Nicht nur die Vereinten Nationen äußerten ihre Bedenken zum Gesetzentwurf, vor allem haben
Frauen- und LGBTQ-Organisationen eine Protestbewegung mobilisiert, denn es gab schon vor Pillons Entwurf Anlass zur Besorgnis:
Zehntausende gingen in den vergangenen Monaten in ganz Italien auf die Straße und
demonstrierten gegen Gewalt an Frauen, gegen die Angriffe auf das Gesetz 194,
das Abtreibung legalisiert, oder gegen Familienminister Lorenzo Fontana, der überzeugt ist, dass gleichgeschlechtliche Ehen und
“Gendertheorien” eine Gefahr für das “italienische Volk” darstellen.

Am
lautesten ist die Gruppe Non
una di meno
(“Nicht eine
weniger”), die sich 2016 gründete und heute in mehr als 50 italienischen
Städten organisiert ist. Einen Höhepunkt erreichte ihr Protest Ende März in
Verona, anlässlich des World Congress of
Families, dem größten Treffen der globalen
Pro-Life-Bewegung
. Der Ort
wurde natürlich nicht zufällig gewählt: Verona ist seit vergangenem Jahr die
sogenannte Stadt für das Leben und finanzielle Unterstützerin ultrakatholischer
Organisationen, die Abtreibungen verhindern wollen. Familienminister Lorenzo Fontana übernahm die Schirmherrschaft, Innenminister Salvini (“Solange ich lebe, werde ich die Gendertheorie bekämpfen, die
davon ausgeht, dass es keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt.
Wenn der gute Gott uns mit Unterschieden geschaffen hat, gibt es dafür einen
Grund”) und Simone Pillon waren anwesend. Was die Veranstalter*innen
nicht erwartet hatten: Die
Gegendemonstration war riesig, die lokalen Zeitungen nannten sie die größte,
die Verona je gesehen habe.

Pillon und die Lega Nord arbeiten, das
erklärte Pillon auf Facebook
, an einem
“Italien, dem es gelingt, den Wert der Familie und die Schönheit, die darin
liegt, mit einer Mutter und einem Vater und vielleicht einem Geschwisterchen
aufzuwachsen, an die kommenden Generationen weiterzugeben. Aber wir werden
gewinnen. Denn die Liebe (die wahre) gewinnt immer.” Es ist also ein Kampf, der
hier geführt wird. Doch nicht nur Pillon hat eine Lobby. Dem von Non una di meno organisierten Protest
haben sich nach und nach nicht nur NGOs und Gewerkschaften, sondern auch
zahlreiche Politiker*innen angeschlossen. Der Partito Democratico möchte am 7. Mai
bei der Diskussion im Senat alle seine 52 Senator*innen gegen den Entwurf
sprechen lassen
. Es ist also fraglich, ob Simone Pillon mit seinem Vorschlag
durchkommt.

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