/Sonnenallee in Berlin: Straße der Glücksritter

Sonnenallee in Berlin: Straße der Glücksritter

Vielleicht muss ein Porträt über die Sonnenallee dort beginnen, wo alle zusammenkommen. Wo die Holzkohle im Schaufenster glüht und die Hähnchen sich darüber drehen, nach islamischen Vorschriften geschlachtet, 3,50 Euro das halbe, 4,99 mit Pommes und Knoblauchsoße. Alles halal. Ein früher Donnerstagabend, Sonnenallee 26. Die Schlange vor dem Bestellcounter bei Risa Chicken windet sich um die Kunststofftische. An einem sitzt eine junge Mutter mit Kopftuch, neben sich Einkaufstaschen, sie teilt sich mit ihrem kleinen Sohn im Buggy eine Tüte Pommes. Ihr Tag geht zu Ende. Daneben drei Mittzwanziger, Spanier, der Mann mit Wollmütze, die Frauen mit langen Mänteln und Trekking-Boots, leuchtende Handy-Displays vor sich. Ihre Nacht beginnt.

Vorne am Counter werden die Bestellnummern aufgerufen, in Deutsch und Arabisch. Im hinteren Raum sitzen die fünf Neuköllner Rapper von AOB in bunten Strickpullis, hinter sich Poster von Oldtimern, vor sich eine Portion Crispy Filets, ihr Lieblingsgericht hier. Risa, das sei “Legende”, sagen sie, es ist ihr Treffpunkt, hier haben sie das Video zu ihrem Song
Sonnenallee
gedreht, ihr bislang größter Erfolg, fast 260.000-mal auf YouTube angeklickt. Sie sind jetzt Lokal-Prominenz. Schwer zu sagen, wer von wessen Kultstatus mehr profitiert: Risa von Rappern wie AOB oder die Rapper von Risa.

Fünf Filialen hat Risa Chicken mittlerweile in der ganzen Stadt, eine sogar im bürgerlichen Prenzlauer Berg. Eine Erfolgsgeschichte, die gleichzeitig Symbol ist für die erstaunliche Karriere der Straße, auf der sie begann: der Sonnenallee. “Als wir 2002 anfingen, gab es hier fast nichts. Es war nicht vorherzusehen, dass die Straße einmal so eine Zukunft haben würde”, sagt Yamuar Osman aus der Geschäftsführung von Risa. “Die Sonnenallee war lange ein Ort für Glücksritter.”

Sie kamen, die Glücksritter, und sie fanden hier, was sie suchten: Händler und Gastronomen das Geschäft, geflohene Syrer ein Stück Heimat, australische Musiker die Freiheit, deutsche Studenten das Gegenstück zur Provinz – und kriminelle Clans ihre Pfründe, wenn man den Gerüchten über die Straße glauben kann. Vor wenigen Jahren stand hier noch jeder zweite bis dritte Laden leer, heute seien die Mieten für Gewerberäume zum Teil ähnlich hoch wie auf dem Kurfürstendamm, sagt das vom Bezirksamt eingesetzte “Stadtteil-Management Sonnenallee”. Der Ruf der Straße hallt bis in die USA. Die Sonnenallee sei, schreibt die
Los Angeles Times,
eine der chaotischsten und charismatischsten Straßen Berlins. Sie wird geliebt und gehasst, gesucht und gefürchtet. Und vielleicht versteht man nirgendwo besser als hier, was Zusammenleben in einer Großstadt heute bedeutet.

Fünf Kilometer lang zieht sich die vierspurige Sonnenallee durch Neukölln, gesäumt von üppigen Linden, deren Blätter bei Sonnenschein Schattenmuster auf die Straße malen. Früher trennte die Mauer die östlichen 400 Meter der Straße ab, die in Treptow liegen. Berühmt ist heute vor allem der erste Kilometer zwischen Hermannplatz und Wildenbruchstraße, im Norden Neuköllns. Der Abschnitt, auf dem sich arabische Geschäfte und Restaurants aneinanderreihen, deren knallbunte Leuchtschilder nachts die Fassaden der Altbauten erhellen. Rund 60 Prozent der Läden haben hier einen arabischen Besitzer, sagt das Stadtteil-Management.

Draußen vor Risa zwitschern an diesem Frühlingsabend die Vögel gegen den Autolärm an. Bei “Soldier of Fortune” besehen sich ein paar Jungs die Druckluftgewehre im Schaufenster. Ältere Frauen und Männer mit Einkaufstaschen auf Rollen schieben sich an Eltern mit Kinderwagen vorbei, auf der Straße staut sich der Verkehr. Der M41er-Bus kommt kaum an dem silbernen Mercedes vorbei, der in zweiter Reihe vor Azzam steht, dem Imbiss, der in der ganzen Stadt für sein gutes Hummus bekannt ist. Die Dichte an Luxuskarossen ist hoch hier, oft haben die Besitzer die Anfangsbuchstaben ihrer Namen ins Nummernschild einprägen lassen. Wenn ein Wagen mit B-AZ vorbeifährt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass jemand aus der Familie Azzam darin sitzt.

Vor dem Gemüseladen ein paar Häuser weiter warten die Paletten mit der frischen Ware auf dem Gehsteig. Zwei Männer stehen da und knacken geröstete Kürbiskerne mit den Schneidezähnen, die weißen Hülsen in einem Ring um sich herum wie einen Heiligenschein. In der Shisha-Bar daneben, von der es heißt, sie sei ein beliebter Treffpunkt arabischer Clan-Mitglieder, sitzen Männer mit getrimmten Bärten und ziehen an ihren Wasserpfeifen, andere sehen aus wie arabische Studenten, mit lockigem Haar und Hornbrille. Zwei Frauen betrachten im Schaufenster eines Brautmodengeschäfts die weißen Kleider aus hauchdünnen, glitzernden Lagen, in denen die Braut aussieht wie ein Millefeuille mit Zuckerguss. Den Goldschmuck für die Hochzeit gibt es beim Juwelier Al Sham. Viele Geschäfte auf der Sonnenallee tragen das Wort “Sham” im Namen: Yasmin al Sham, Shisha Sham – Sham war eine historische Region der Levante, in der das heutige Syrien lag. Und tatsächlich kommen auch aus entfernten Teilen Deutschlands Syrer hierher, um einzukaufen. So wie die Mittdreißigerin aus Erfurt, die mit einem schweren Rucksack die Sonnenallee hocheilt. Sie kommt alle paar Wochen her, um Sachen zu besorgen, die sie in Erfurt nicht oder nur sehr viel teurer bekommt: syrisches Olivenöl, syrischen Kaffee, eine hausgemachte, scharfe Tomatenpaste, die schmeckt wie in Damaskus. Auf der Sonnenallee kauft sie sich ein Stück Heimat. In den Shisha-Bars der Straße gibt es eine Tabaksorte, die dieses neue Berlin-Gefühl im Namen trägt: Berlin Nights. Sie riecht nach Pfirsich und Minze.

“Liegt Weed in der Luft / Und Shisha-Geruch / Riecht das Fleisch nach Zimt / Dann weißt
du, wo wir sind / In der Sonnenallee. / Riechen Haare nach Wachs und Fassaden nach Lack /
Stell die Nase in’ Wind / Und du weißt, wo wir sind / In der Sonnenallee”. Aus dem Lied
Sonnenallee der Rap-Band AOB featuring Said.

Dass der Erfolg von Risa Chicken auf der Sonnenallee begann, ist natürlich kein Zufall. Eine libanesischstämmige Gastronomin gründete das Unternehmen hier 2002. Risa

bedeutet auf Deutsch so viel wie “Gottes Segen”. Die Hühnchen-Braterei ist mittlerweile eine Art Tor zur Sonnenallee. Ihr Erfolg hat auch mit dem neuen Selbstbewusstsein arabischstämmiger Deutscher zu tun. Die Idee, Halal-Fleisch zu verkaufen, traf auf den Zeitgeist junger Berliner Muslime, die sich der Kultur ihrer Herkunftsländer zuwandten. Seinen Stolz, es allen gezeigt zu haben, hat das Unternehmen in einer Wandbemalung in der neuesten Filiale am Bahnhof Zoo verewigt: Man sieht das Brandenburger Tor, aber ohne Pferde. Die sind herabgestiegen und stehen davor. Stattdessen kommt von links ein Kamel, bereit für den Aufstieg.

Die Rapper von AOB, der “Army of Brothers”, haben sich in Neukölln mittlerweile sattgegessen. Im Video zu ihrem Song
Sonnenallee
haben sie tiefe Augenringe, halten sich an Zigaretten fest und gucken böse in die Kamera, Zornesfalten auf der Stirn. Bei Risa sitzt heute eine überraschend gut gelaunte Truppe, die entspannt dreinblickt. Sie sprechen sich mit ihren Rapper-Namen an: Bangs, Chapo, Abiad, Almani und Haki. Simon ist auch dabei, er ist ein Freund aus Kindertagen und jetzt eine Art Manager. Auf dem Tisch liegt das Buch, das er gerade liest,
Moby Dick,
der Klassiker von 1851. Chapo, der sehr schnell redet und das fast pausenlos, erkundigt sich höflich, ob er die Reporterin duzen darf, und nimmt sogar sein Basecap ab, “das gehört sich doch so”.

Die fünf Rapper stammen alle aus Neukölln, die meisten gingen schon zusammen zur Schule, jetzt sind sie Mitte 20. Bangs, der bis vor Kurzem noch in einem Jugendtreff am Ende der Sonnenallee gearbeitet hat, konzentriert sich jetzt ganz auf die Musik. Die anderen arbeiten halbtags, einer zum Beispiel als Elektriker, der andere im Sicherheitsdienst. Zur Army of Brothers, sagt Simon, gehöre im Hintergrund eine ganze Gang alter Freunde, etwa ein Dutzend Leute. Sie helfen mit bei der Produktion von Songs und Videos.

Von allen sechs am Tisch sind nur bei Abiad beide Eltern arabisch, sie sind palästinensischer Herkunft. Die andern haben die unterschiedlichsten Wurzeln: deutsch, deutsch-polnisch, ukrainisch, türkisch, kurdisch-ägyptisch. Obwohl jeder von ihnen zu Hause eine andere Sprache gelernt hat, reden sie alle im gleichen Neuköllner Slang, in dem das “ch” wie “sch” ausgesprochen wird und “voll mies” ein Ausdruck für “voll geil” ist.

Die Sonnenallee ist ihre Bühne, Risa ihr Backstage-Raum. Hier sitzen sie oft zusammen, treffen Leute und essen.

“Die Sonnenallee ist Neuköllns Boulevard”, sagt Almani, der sich so nennt, weil er Deutscher ist – auf Arabisch
Almani.

“Die Straße hat sich krass verändert”, findet Bangs, “hier kommen jetzt Touristen her, und es gibt fliegende Händler, die irgendwo ihre Koffer hinlegen und Kleider verkaufen.”

Früher, erzählen sie, verrauchten sie hier in der Shisha-Bar El Salam ihr Taschengeld, “für fünf Euro gab es eine Pfeife und ein Getränk”, sagt Bangs. Dann sind sie weiter in die Hasenheide, einen Park in der Nähe, Gras rauchen, und dann zurück zur Sonnenallee, um sich Ein-Euro-Schawarmas gegen den Heißhunger zu holen.

Ein-Euro-Schawarmas gibt es hier nicht mehr. Mittlerweile sind den Jungs von AOB auch die Shisha-Bars zu voll. Sie wohnen jetzt alle im Süden Neuköllns, wo die Mieten noch bezahlbar sind.

“Auf der Sonnenallee sind mittlerweile krass viele Hipster unterwegs”, sagt Almani.

“Die finden es erst voll geil hier”, fügt Haki hinzu, “und dann beschweren sie sich, wenn es um 22 Uhr noch laut ist.”

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