/Fitness: Ich hasse dich, Sport. Und alles, was du mir angetan hast

Fitness: Ich hasse dich, Sport. Und alles, was du mir angetan hast

Es war einmal der Sport. Der
Sport war ein Wort, ein großes Wort, ein Wort von visionärer Klarheit: Es
klang nach reinweißen Tennissocken, pulsierenden Venen, grünem Rasen, nach
glitzernden Abfahrtspisten, konzentrierten Siegergesichtern und jubelnden
Mengen. Nach Selbstüberwindung, gutem Charakter und strotzender Gesundheit. Das
war der Sport. Und dann war da ich. Und der Tag, an dem ich zu mir kam. 

Ich habe Sport nicht immer
gehasst. Ich glaubte an ihn, denn seine Idee erschien mir erhaben. Doch seine Realität
war für mich, seit ich denken kann, das nackte Grauen. Die Tartanbahn war
bereits in der Grundschule meine persönliche Vorhölle. Im Gegensatz zu Nicole, die immer schon mit
schnaubenden Nüstern in den Startlöchern stand,
schliefen mir nach drei Sekunden in Startposition die Beine ein; mein Herz
beschleunigte vor Nervosität, weil die Jungs drüben auf der Wiese Fußball
spielten, und ich wusste, sie würden zu uns rüber schauen und sehen, dass ich
wieder zehn Meter hinter den anderen herdudelte. Ich war zu lang und zu
schlaksig, zumindest an den Seiten, zur Mitte hin verdichtete sich alles zu
einem Schwerpunkt in Form einer hübschen kleinen Wampe, sodass sich mein Körper
beim Rennen in eine Art außer Kontrolle geratene Salatschleuder mit
antizentrifugalem Speck-Kern verwandelte.

Der Schulsport war ein Desaster.
Nicht nur für mich, auch für alle, die in meine Nähe kamen. Beim Handstand
bekam ich Panik und brach meiner Partnerin, die mir Hilfestellung geben sollte,
mit meinen strampelnden Beinen fast die Nase. Während der gemeinsam mit meiner
Mädchengruppe entwickelten Choreographie zu Ushers Yeah auf dem
Schwebebalken fiel ich an der Stelle, wo wir low gehen wollten, rücklings über und verdarb die Kür. Und
bei den Bundesjugendspielen warf ich den Ball minus fünf Meter.

Irgendwann kam die Pubertät über
mich und der Sport wurde zum Kollateralschaden eines umfassenden
Mädchenprojekts. Dessen Grundlage war, nahm
man die Prophezeiungen, die einem aus der Bravo Girl und Heidi Klums
Fernsehdiktat entgegenschlugen, ernst, ein Versprechen: Jede, ja auch ich,
könnte ihren durch Veranlagung und individuellen Müßiggang zur Mittelmäßigkeit
verdammten Körper in eine flachbäuchige Sporty-Spice-Apparatur verwandeln,
würde man sich nur genug anstrengen und immer die Pobacken zusammenkneifen,
sobald sich die Gelegenheit dazu ergab. Der
Körper war nicht mehr
Ballast, sondern ein Tempel, der gepflegt und zum strahlenden Aushängeschild
der Persönlichkeit transformiert werden sollte. Ich beschloss also, meiner
Unzulänglichkeit zu trotzen, kniff mich durch die Schultage, bis ich nicht mehr
gehen konnte, und begann joggen zu gehen und jeden Abend Sit-Ups zu machen. Ich
schrieb Durchhaltemantren, Kalorientabellen und Drohbriefe an mich selbst in
mein Tagebuch und verzierte die Ränder mit umsichtig mit der Bastelschere
verstümmelten Modelkörpern.

Scheitern, vermeiden, schämen

Ich hatte große Pläne. Keinen einzigen davon
habe ich durchgehalten. Die Anzahl der vorgenommenen Sit-Ups diskutierte ich
mit mir selbst, während ich sie machte. Beim Joggen lief ich 20 Minuten
lang, dann vergaß ich, dass ich laufen wollte, und ging durch die
Frühlingslandschaft spazieren. Ich glaube, das war der Anfang meiner Karriere als
Selbst- und Fremdbetrugsjunkie: wollen, scheitern, vermeiden, schämen,
wiederanfangen, wiederaufgeben, nichtaufgebenwollen, selbsthassen, vermeiden,
schämen, wiederanfangen. Mein Sport wurde die Sportvermeidung. Und darin war
ich schnell Profi. Ich versteckte mich im Gebüsch, um die Laufrunden
auszusetzen, drückte mich vor den Bundesjugendspielen, erfand Liebhaber, um
nicht zum vereinbarten Bauch-Beine-Po-Kurs mit meiner besten Freundin gehen zu
müssen und fälschte Krankheitsschreiben, inszenierte Stauchungen und reihenweise
Ohnmachtsfälle.  

Danach muss etwas passiert sein,
an das ich mich nicht mehr erinnern kann. Es muss dazu geführt haben, dass ich
die erlebten Schrecken meines Sporterwachens ganz einfach vergessen habe. Denn
wieso sonst meldete ich mich, sobald ich den Schulsport losgeworden und in
Berlin angekommen war, als erste Amtshandlung zum Yoga an und zum Kickboxen,
zum Krav Maga und zum Federball? Ich stieß insgesamt sechs Karteileichen-Mitgliedschaften
in Fitnessstudios an, jedes Mal wieder mit der festen Überzeugung, völlig
unbeschädigt von allen Misserfolgserlebnissen zu sein. Ich dachte tatsächlich
jedes einzelne Mal: Ja, das ist es, dieses Mal wird alles anders! Und dann kam
der Tag, an dem ich zu mir kam. 

Mein Freund, mit dem ich damals
mit Anfang Zwanzig Erwachsenenbeziehung spielte, hatte mir einen Stepper
geschenkt. Der Stepper war mein erstes echtes eigenes Fitnessgerät. Ich weiß
nicht, warum er ihn mir geschenkt hat, ich glaube, ich hatte ihn mir gewünscht,
jedenfalls hoffe ich das, denn ein unaufgefordert geschenkter Stepper grenzt ja
an Beleidigung. Es war eines dieser heimlichen Fitnessgeräte zum
Zusammenklappen und Verstauen, eines von denen, die so tun, als wären sie gar
nicht da.

An dem Tag holte ich den Stepper
aus einer seit Tagen Routine gewordenen Laune hinter dem Kleiderschrank hervor,
stellte ihn ins Wohnzimmer neben den gefühlt 3×2 Meter großen Fernseher, an dem
mein Freund gerade Grand Theft Auto zockte, und begann loszutappeln. Ich
bewegte mich im Takt des GTA-Soundtracks, fing an zu schwitzen, dachte an den Körper, den ich immer haben wollte, dachte ganz fest
daran, wie ich endlich dieses Kleid tragen würde, während ich von Frühlingsbrisen umhüllt die Straßen in
Paris hinunterschlenderte. Dachte daran, dass mir alle auf den vom ganzen
Steppen straff gewordenen Arsch schauen würden und wartete darauf, dass ich es
endlich fühlen würde, das High, die Selbstüberwindung, das Erhabene, ja, und
der Stepper quietschte unter meinen Füßen und ich strampelte immer mehr und
schwitzte und sah meinen roten, aufgedunsenen Kopf im Spiegel, während auf dem
Bildschirm ein tiefergelegter Glitzerschlitten unter einem pixelig-pinkfarbenem
L.A.-Himmel gerade eine Fußgängerin umfuhr. Ich schaute abwechselnd auf den
Screen und meinen fluchenden Freund, und dann dachte ich an die Frau in dem
Kleid aus meinem Kopf und sah mich daneben, auf dem Stepper, in der kruden
Realität dieses Leben gewordenen Teleshopping-Alptraums, diese beiden Szenen
nebeneinander, kippten hin und her, wie ein erbarmungsloses Vexierbild, und ich
dachte: “Scheiße. Das ist doch nicht Dein Ernst.”

Das war der Moment, in dem ich
alles verstanden habe. Ich sah sie vor mir, meine Passion in all ihren
widerlichen Einzelheiten, sah aus dem Fenster auf die anderen Fenster, hinter
denen ich andere Menschen auf heimlichen Fitnessgeräten vermutete, unsagbar viele
Leben im Dauerkampf gegen sich selbst und gegen den Sport. Doch wieso machen
wir weiter? Wieso hören wir nicht einfach auf, uns zu quälen?

Ich verlangsamte meinen Schritt,
und während mein Puls sich zu senken begann, dämmerte mir, dass es darauf nur
eine Antwort geben konnte: Weil wir unsere Traumata vergessen haben. Ganz
einfach, weil wir sie vergessen mussten, damit aus uns gute Erwachsene mit
guten Charakteren und Siegergesichtern werden konnten. Weil man uns gesagt hat, dass wir uns
überwinden müssten. Dass wir nicht aufgeben dürften. Und wir wollten es
glauben. Weil wir Gewinner sein wollen. Gewinner gegen das Leben. Gewinner
gegen uns selbst.

Und dann, da auf dem Stepper,
erstarrte ich zu kalter, wabernder Muskelmasse und es kam mir vor, wie das Runners High,
auf das ich immer gewartet hatte: Ich will nicht gegen mich selbst gewinnen.
Ich gebe hiermit offiziell auf. Und ich gestehe: Ich hasse dich, Sport. Und
alles, was du mir angetan hast.

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