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Joe Kaeser: Der Industriekanzler

Joe Kaeser erzählt gerade von seiner Zeit an der Realschule in
Niederbayern, als ihm sein Pressesprecher vom Beifahrersitz des Wagens aus das Telefon nach
hinten reicht. Der Vorstandschef von Siemens ist an der amerikanischen Westküste auf dem Weg
von San Francisco nach Sacramento. Dort will er eine Zugfabrik seines Konzerns besuchen. Am
Apparat ist eine Mitarbeiterin aus dem zweiten Fahrzeug. Sie kümmert sich unterwegs um Kaesers
Kommunikation und gehört wie der Sprecher und ein Sicherheitsmann zu der kleinen Reisegruppe,
mit der Joe Kaeser in dieser Woche im März 2019 durch Amerika tourt.

Kaeser übernimmt das Handy.

“Heute Nachmittag? … Soll ich ihn anrufen? … Ich habe die Mobilnummer. Ich rufe ihn in zwei Minuten an.”

Kaeser gibt das Telefon wieder nach vorn. Er sucht nun auf seinem eigenen Gerät eine Nummer, während er weiter über seine Kindheit spricht und davon, dass Schule ihm nicht wichtig gewesen sei, die Hausaufgaben habe er notfalls im Bus gemacht, mit dem er morgens durch die niederbayerische Landschaft fuhr.

Dann hat er die Nummer gefunden. Er sagt: “Ich müsste nun kurz den Gouverneur von Ohio anrufen.”

Kaeser wählt die Nummer, am anderen Ende hebt sofort jemand ab. Kaeser sagt: “Hi, hier ist Joe Kaeser. Ist da Gouverneur Kasich?”

John Kasich war Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner und bis Januar Gouverneur des US-Bundesstaates Ohio. Nach zwei Amtszeiten durfte er nicht mehr kandidieren. In seiner Partei ist er weiter ein einflussreicher Mann. Zurzeit deutet er gern an, 2020 gegen den Präsidenten Donald Trump antreten zu wollen.

Kaeser berichtet von der Reise: Kalifornien, schönes Wetter, Zugfabrik, Sacramento. Dann lange Pause, Kasich spricht. Kaeser: “… Nett. … Cool. … Sie machen Scherze! … Aha. … Haha.”

Nach ein paar Minuten ist der Small-Talk-Part zu Ende. Kaeser geht an die Arbeit.

Der Vorstandschef hat auf dieser Reise viele Missionen, eine davon ist es, den Amerikanern und ihrem Präsidenten beizubringen, dass Siemens auch ein amerikanisches Unternehmen ist.

Im Oktober hat Siemens eine Vereinbarung mit dem Irak geschlossen. Der Konzern soll in dem vom Krieg versehrten Land Kraftwerke und Stromnetze bauen und dafür mehrere Milliarden Dollar kassieren. Die amerikanische Regierung war nicht begeistert. Angesichts der vielen im Irak gefallenen US-Soldaten verlangt sie, dass der Zuschlag an den amerikanischen Siemens-Konkurrenten General Electric geht. Also machten Trumps Leute Druck in Bagdad. Kaeser suchte die Unterstützung der Bundesregierung, er flog selbst noch einmal in den Irak. In der Zwischenzeit gab es dort einen Regierungswechsel. Die Sache ist nun sehr unübersichtlich.

Um den Auftrag nicht zu verlieren, arbeiten der Siemens-Chef und seine Lobbyisten seit Monaten daran, zwei Zahlen im Umfeld des amerikanischen Präsidenten zu deponieren. Auch der ehrgeizige Kasich soll diese Zahlen kennen. Kaeser sagt ins Telefon: “Wenn ich all die Tweets aus dem Weißen Haus lese, frage ich mich, wie wir als Unternehmen mit 50.000 Leuten und mehr als 16 Milliarden Euro Umsatz in den USA damit umgehen sollen, als Fremde behandelt zu werden.” Damit Kasich auch wirklich versteht, worum es geht, sagt Kaeser noch: “Wir wollen als Firma behandelt werden, die qualifizierte und gut bezahlte Jobs für fleißige amerikanische Männer und Frauen bereitstellt.”

Bevor er auflegt, schlägt Kaeser ein Treffen vor und ermutigt den Gouverneur zu einer erneuten Kandidatur für die US-Präsidentschaft. Er sagt: “Jeder wartet darauf, dass Sie wieder angreifen.”

Während dieser Autofahrt deutet Kaeser oft auf Berge und Brücken, die man sich anschauen solle. Bei Flügen über Kalifornien organisiert er für seine Mitreisenden Plätze am Fenster, damit sie alles sehen können. Es wirkt, als sei er ein bisschen stolz. Tatsächlich sind ihm die USA in den Neunzigern so sehr zur Heimat geworden, dass er sogar seinen Namen angepasst hat. Aus Josef Käser hat er Joe Kaeser gemacht.

Damals war er Finanzchef von Siemens Microelectronics mit Sitz im Silicon Valley. Heute ist er Siemens-Chef für die ganze Welt und lebt mit seiner Frau wieder in Niederbayern. Den Namen aus Amerika hat er behalten. Früher war er der Käser Sepp. Erst der Nachname, dann der Vorname, so ist das in Niederbayern. Und nun, nach dem langen Weg vom Sepp über den Josef zum Joe, telefoniert er wie selbstverständlich mit einem Mann, der sich das mächtigste Amt der Welt zutraut. Er ist jetzt 61 Jahre alt, an den Sepp von damals erinnert noch die bayerische Farbe in seinem Englisch. Sonst ist die Realschule in Niederbayern in diesem Moment ziemlich weit weg.

Kaeser sagt nach dem Telefonat: “Es ist immer gut, auf diejenigen zu setzen, die später noch einmal wichtiger werden.”

Die 172 Jahre währende Geschichte von Siemens ist auch eine Geschichte vom Geschäft mit dem Staat. Der Gründer Werner von Siemens schickte seine Brüder nach Großbritannien, nach Russland und ins heutige Georgien, wo sie den dortigen Regierungen ihre Telegrafenleitungen anboten. Heute kaufen neben großen Unternehmen vor allem Staaten rund um die Welt Kraftwerke und Stromnetze, Züge und Medizintechnik, Windkraftanlagen und Fabriken des Konzerns. Ein Vertrag mit Siemens, das klingt für viele Präsidenten und Premierminister wie: eine Partnerschaft mit Deutschland.

Den Siemens-Chef macht das zu einem sehr speziellen Vorstandschef. Sein Erfolg hängt auch davon ab, wie gut er sich mit Politikern auf der ganzen Welt versteht.

Joe Kaeser wiederum ist ein sehr spezieller Siemens-Chef. Es ist bei ihm nicht immer klar, ob er noch Geschäfte macht oder schon Politik. Manchmal hat es den Anschein, als verstehe er sich nicht als Industriemanager, sondern als Industriekanzler.

Eine kleine Auswahl:

Kurz nach der Annexion der Krim, die EU diskutiert über Sanktionen gegen Russland, reist Kaeser nach Moskau, um sich mit Präsident Wladimir Putin zu treffen. Es sieht aus wie ein Solidaritätsbesuch bei einem Autokraten.

Als die AfD-Fraktionschefin Alice Weidel in einer Rede von “Kopftuchmädchen” spricht, kritisiert Kaeser sie öffentlich. Es wirkt wie eine Verteidigung der liberalen, offenen Gesellschaft.

Nachdem der saudi-arabische Journalist Jamal Khashoggi mutmaßlich auf Anweisung seiner eigenen Regierung ermordet wurde, stornieren westliche Konzernchefs ihre Teilnahme an einer Wirtschaftskonferenz in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad. Kaeser dagegen sagt: “Wenn ich nirgendwo mehr hindürfte, wo Menschen verschwinden, könnte ich gleich zu Hause bleiben.” Es mutet an, als sei er der Verbündete einer Diktatur.

Worum geht es diesem Mann? Sieht er sich als Manager, als Politiker oder einfach nur als Bürger, der gern seine Meinung sagt?

Diese Fragen standen am Anfang einer Recherche, bei der die
ZEIT
den Siemens-Chef mehr als ein Jahr lang begleitet hat, beginnend Anfang 2018, als manche der genannten Konflikte noch gar nicht abzusehen waren. Es wird ein Jahr voller Widersprüche, in dem Joe Kaeser erkennen muss, wie hilflos der Chef eines Weltkonzerns mitunter sein kann. Ein Jahr, in dem er auf öffentlichen Druck hin eine Entscheidung revidieren muss. Aber auch ein Jahr, an dessen Ende er so mächtig sein wird wie kein Siemens-Chef vor ihm – und keiner nach ihm.

Das erste Treffen
findet in seinem Münchner Büro statt. Eigentlich soll es
nur ein lockeres Kennenlernen sein. Doch Joe Kaeser hört an diesem Abend im Februar
vergangenen Jahres nicht auf zu reden. Wenn er mit Journalisten spricht, lässt er sonst gern
leicht vernuschelte, unvollständige Sätze im Raum stehen, deren unausgesprochene Teile nicht
selten zu kleinen Gemeinheiten über andere mächtige und weniger mächtige Menschen führen.
Kaeser schaut dann gern dabei zu, wie sich die Journalisten darüber hermachen. Jetzt ist das
anders. Kaeser setzt weder Punkt noch Komma. Es geht ihm nämlich um eine Person, bei deren
Interpretation er nichts dem Zufall überlassen will. Es geht um Joe Kaeser, und der hat im
Moment viel Ärger – in der Presse, in den sozialen Medien.

Wenige Tage zuvor war Kaeser beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Beim Dinner saß er neben Donald Trump. Vor laufenden Kameras lobte er den US-Präsidenten für seine Entscheidung, die Unternehmenssteuern zu senken. Er versicherte ihm, Siemens werde in Amerika demnächst Turbinen produzieren – und das, nachdem er zuvor angekündigt hatte, eine Turbinenfabrik im sächsischen Görlitz zu schließen.

“Fauxpas beim Dinner mit dem Präsidenten”, schrieb das
Handelsblatt.

“Unterwerfung”, titelte die
Süddeutsche Zeitung.

“Trumps großer Huldiger”, formulierte die
Welt.

“Jede Minute in diesem Gespräch war Kalkül”, sagt Joe Kaeser jetzt, an diesem Abend in seinem Büro. Er ist nun ganz in der Rolle des Managers: “Wenn ich neben dem amerikanischen Präsidenten sitze, werde ich ihm nicht live im Fernsehen sagen, was mir alles nicht gefällt. Ich vertrete ein Unternehmen und habe Verantwortung für Zigtausende von Jobs. Da gibt es eben Interessenlagen. Das vergisst man gern, wenn man dann so etwas im Fernsehen sieht und denkt: Oh Gott, ist der überfreundlich zu diesem Mann.”

Joe Kaeser ist einer, über den Freunde wie Feinde erzählen, dass es kaum einen Manager gebe, der so berechnend denke wie er. Er wird also auch mit den Gesprächen in diesem Jahr mit der
ZEIT
ein Kalkül verbinden. Er sagt: “Dann kriegt jemand, der über den eigenen Tellerrand denkt und ein bisschen gutmeinend ist, vielleicht ein besseres Gesicht von diesem Typen und eine Synthese davon, wie das alles zusammenhängt.”

Der Typ, das ist er, Joe Kaeser.

Als Kaeser an einem Junimorgen 2018 am Münchner Flughafen in den Privatjet steigt, kommt er vom Frühstück mit Markus Söder, dem bayerischen Ministerpräsidenten. Die Zeitungen sind voll mit Berichten über den Flüchtlingsstreit zwischen den Unionsparteien. Außerdem schreibt die internationale Presse über die Verhaftung des Audi-Chefs Rupert Stadler. Er musste am Vortag im Zuge des Diesel-Betruges in Untersuchungshaft.

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