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Nationalsozialistischer Untergrund: Das vergessene Opfer des NSU

Dieser Laden sollte eigentlich seine Zukunft sein. Eine Kneipe in der
Nürnberger Südstadt, Flaschenbier, Schnäpse, Kaffee, ein bisschen Laufkundschaft, ein paar
Stammgäste. Nichts, um Reichtümer zu verdienen, aber für Mehmet O.* war es die Erfüllung eines
Traums. Der Name allein: “Sonnenschein”, so viel Zuversicht. Endlich konnte er sein eigener
Chef sein. Endlich war da eine Perspektive.

Am 22. Juni 1999 feierte O., damals erst 18 Jahre alt, den ganzen Tag über die Neueröffnung. 40, 50 Gäste seien da gewesen, sagt er, Türken, Deutsche, Italiener, “so richtig schön multikulti”. Stundenlang sei getanzt worden, um drei Uhr nachts kam ein Streifenwagen der Polizei und mahnte zur Ruhe. Zwei Stunden später fiel Mehmet O. erleichtert ins Bett. Der Abend war ein großer Erfolg.

Am folgenden Nachmittag schließt der junge Türke das Sonnenschein um kurz nach 14 Uhr auf, “ich musste ja putzen”. Er stellt Kerzen auf die Tische, wischt die Damentoilette, legt Papierhandtücher nach. Auf der Herrentoilette reinigt er als Letztes das Waschbecken, füllt noch die Seife nach, da sieht er, dass hinter dem grauen Plastikmülleimer die Rückseite einer Taschenlampe hervorlugt. Eine Maglite, fast 40 Zentimeter lang, mehr als ein Kilo schwer. “Ich war neugierig, ob sie noch funktioniert, und habe auf den Knopf gedrückt.”

Für den Bruchteil einer Sekunde hört Mehmet O. ein Surren, dann explodiert die Taschenlampe in seiner rechten Hand. Von dem Druck wird er “sicherlich fünf große Schritte in Richtung Eingangstür” geschleudert, wie er heute sagt. Die Wucht der Bombe, eines 13,5 Zentimeter langen Metallrohrs in der Lampe, reißt den Handtuchhalter aus der Verankerung, ein Spiegel zerbirst. Dutzende kleine Kunststoffteile bohren sich in Mehmet O.s Körper, durch die Druckwelle quillt sein Gesicht auf. Der behandelnde Arzt notiert später in seinem Befund “multiple Schürfwunden am ganzen Körper” sowie “ein Knalltrauma”. Er hat Glück, nicht schwerer verletzt zu werden.

Wochenlang liegt Mehmet O. danach im Bett in der Wohnung seiner Eltern, sein Gesicht schmerzt so sehr, dass seine Mutter ihn füttern muss, die ersten Tage kann er kaum etwas hören. Das Haus verlässt er nur selten, hat ständig Angst, dass derjenige, der ihm das angetan hat, hinter einer Ecke lauert. Wer das sein könnte? Er hat keine Ahnung. Diese Ungewissheit wird jahrelang an ihm nagen. Er wird sich oft bis zur Besinnungslosigkeit besaufen, um zu vergessen, er wird Freunde wegstoßen, die es nur gut mit ihm meinen, er wird seine Heimatstadt verlassen und nie wieder zurückkehren, er wird von Schulden erdrückt werden und Privatinsolvenz anmelden. Die erhoffte Zukunft wird zum Rucksack der Vergangenheit. Fast zwei Jahrzehnte lang wird er sich den Kopf darüber zerbrechen, was an diesem Tag im Jahr 1999 eigentlich passiert ist.

Ein Beamter notiert, ein politischer Hintergrund sei “nicht erkennbar”

An einem sonnigen Apriltag 2019 sitzt Mehmet O. in seinem Wohnzimmer in einer Kleinstadt im Süden des Landes, unablässig krächzen zwei Papageien, der Fernseher läuft tonlos. Wo genau er wohnt, das soll nicht in der Zeitung stehen, ebenso wenig wie sein richtiger Name. Denn auch wenn Mehmet O. sein Leben endlich wieder im Griff hat, feste Freundin, fester Job, so hat er noch immer Angst. Und doch will er jetzt seine Geschichte erzählen. Die Geschichte eines lange vergessenen Opfers – des ersten Opfers der Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU).

Am Tag nach dem Anschlag und noch einmal acht Tage später war Mehmet O. von der Polizei vernommen worden. Die Beamten duzten ihn. Mehmet, erzähl doch mal, wer könnte dir das angetan haben? Er könne sich “beim besten Willen” nicht vorstellen, “wer was gegen mich haben könnte”, so steht es in seiner Aussage, die der
ZEIT
vorliegt. Vernommen wird damals auch der eigentliche Betreiber der Gaststätte, der damalige Lebensgefährte von Mehmet O.s Tante, der den Laden an O. übergeben wollte. Auch er weiß zunächst keine Erklärung. Nur 17 Stunden nach der Explosion notiert ein Polizeibeamter in einem Sachstandbericht bereits, dass “ein politischer Hintergrund (…) nicht erkennbar” sei.

In der Folge ermittelt das Bayerische Landeskriminalamt im Umfeld des Geschädigten. Bei einer zweiten Vernehmung des Lebensgefährten von Mehmet O.s Tante im August 1999 behauptet dieser plötzlich, er sei “der vollsten Überzeugung, dass die Explosion der Taschenlampe durch Mehmet O. selbst herbeigeführt wurde”. Dieser stecke “tief in gewissen Vereinigungen” und erledige dort “zweifelhafte Geschäfte”. Das Opfer gilt plötzlich als Täter. Die Ermittlungen verlaufen im Sande, die gesamte Akte umfasst keine 100 Seiten. Bereits im Januar 2000, nur sieben Monate nach dem Anschlag, wird das Verfahren mit dem Aktenzeichen 751 UJs 113177/99 ohne Ergebnis eingestellt. Mehmet O. wird über all das nie informiert.

Das Negieren eines politischen Motivs, die Opfer-Täter-Umkehr, die nachlässigen Ermittlungen in einem Fall mit nicht deutschem Opfer: Es liest sich wie eine Blaupause für die desaströsen Ermittlungen in den NSU-Mordfällen der Folgejahre.

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