/Kommunalwahlen in Großbritannien: Der Brexit ist kein Ersatz für gute Politik

Kommunalwahlen in Großbritannien: Der Brexit ist kein Ersatz für gute Politik

Die Kommunalwahlen in Großbritannien sind für die beiden großen Volksparteien, wenn man sie überhaupt noch so nennen darf, so schlecht gelaufen wie erwartet. Wer wissen möchte, wie frustriert große Teile der Bevölkerung sind, braucht nur einen Blick auf die Wahlzettel zu werfen. “Verräter”, kritzelte so mancher enttäuschte Brexit-Anhänger am Donnerstag über das gesamte Blatt. “Farage!!!!”: Der Name wurde auf einem Zettel so oft unterstrichen, dass der Bleistift dabei abgebrochen sein muss.

Für viele war die Wahl eine umso größere Enttäuschung, als Nigel Farage mit seiner Brexit-Partei gar nicht antrat. Die Brexit-Partei wird “nur” an den EU-Wahlen teilnehmen. Für die Brexit-Anhänger gab es zu den Konservativen und den Ultrarechten von Ukip daher keine Alternative. “Warum treten sie nicht einfach zurück”, rief ein wütender Wähler Premierministerin Theresa May entgegen, als sie in Wales nach der verlorenen Wahl auf das Podium trat. “Wir wollen sie nicht. Die Konservativen wollen sie nicht mehr”, brüllte er, als er unter Rufen von “raus, raus, raus” schnurstracks aus dem Saal geleitet wurde.

Die Ergebnisse sind noch nicht vollständig ausgezählt. In Großbritannien wird jedes Jahr auch nur ein Teil der Kommunalpolitiker neu gewählt. Nach der Wahl 2015 fielen 5.521 der insgesamt 8.425 Sitze an die Konservativen, 2.278 an Labour, 658 an die Liberalen, 517 an unabhängige Kommunalpolitiker und 202 Sitze an Ukip. Schon jetzt ist klar, dass die Konservativen in rund 70 Kommunen Einbußen hinnehmen mussten; sie verlieren mindestens 500 Sitze, Labour mindestens 70 Sitze. Die Liberalen hatten dagegen großen Zulauf mit einem Plus von mehr als 300 Sitzen, und die Unabhängigen legten mehr als 240 Sitze zu. All das, wie gesagt, vorläufig.

Selbst der Wahlbezirk Bath & North East Somerset, den der erzkonservative Brexit-Anhänger Jacob Rees-Mogg vertritt, ging an die Liberalen. Der konservative Kommunalpolitiker gibt die Schuld der Regierung: “Ich habe es doch an den Haustüren gehört. Da wurde mir immer gesagt ‘Wir gehen nicht zur Wahl. Wir haben für den Brexit gewählt und ihr bringt ihn nicht. Warum sollen wir also wählen gehen?'” Die Zerrissenheit der Bevölkerung zeigte sich auch hier: Die Brexit-Anhänger gingen oft gar nicht erst zur Wahl oder entwerteten ihre Wahlzettel. Die EU-Anhänger stimmten für die remain-Parteien.

Aber ist das die einzige Erklärung? Stimmt es, dass die Konservativen und Labour diese Wahl nur verloren haben, weil sie “den Brexit nicht geliefert haben”, wie immer behauptet wird?

Weil sie die Bürger vergessen haben

Der Frust der Wähler hat nicht nur etwas mit dem Brexit zu tun. Die Kommunalpolitik ist ein Desaster. Man bedenke: Bei dieser Kommunalwahl ging es nicht um Großstädte wie London, sondern um die kleinen Kommunen im wirtschaftlich vernachlässigten England, im armen Norden, im ländlichen Süden. Dort hatte die Sparpolitik der vergangenen Jahre die härtesten Auswirkungen. Schließlich sind die Kommunen auf die Körperschaftsteuer der ansässigen Wirtschaft, aber auch auf die finanziellen Zuschüsse aus London angewiesen. Diese wurden aber überproportional gekürzt, je mehr die Kommunen gerade auf diese Gelder angewiesen waren.

Ein Beispiel ist die Stadt Sunderland, bisher fest in der Hand von Labour: Das Stadtbild ist marode, traurig, die Sportplätze wurden aus finanziellen Gründen geschlossen, die Kommunalpolitiker stöhnen über die mageren Mittel, über die sie noch verfügen können. Die Bevölkerung erlebt täglich die Mangelwirtschaft im Gesundheitssystem, in den Krankenhäusern, die schlechte Versorgung von Pflegebedürftigen, Kranken, Behinderten. Das Schul- und Ausbildungswesen hinkt hinterher, die Polizei hat die Kapazitäten nicht mehr, um mit der Kriminalität fertig zu werden. Und die große Lösung, die alles zum Besseren wandeln sollte, der angeblich Wohlstand bringende Brexit, wird von den Konservativen und von Labour nicht geliefert. Diese Woche war der ideale Zeitpunkt, der Politik einen Denkzettel zu verpassen. In Sunderland verlor Labour Sitze an die Konservativen und an Ukip. In anderen Städten verloren die Konservativen sogar mehr.

Die Bevölkerung wendet sich von den Politikern ab, die aus ihrer Sicht von London aus schalten und walten und dabei jeglichen Kontakt zur Realität verlieren, allen voran Boris Johnson. Er twitterte am Donnerstag: “Ich habe gerade die Konservativen gewählt! Ich hoffe Sie gehen auch zur Wahl und tun das Gleiche!” Die Bemerkung wurde kurze Zeit später gelöscht. Boris Johnson hat seinen Wohnsitz in London. Dort gab es am Donnerstag gar keine Kommunalwahl.

Die beiden großen Parteien regieren tatsächlich an den Belangen der Bevölkerung vorbei und repräsentieren die Bürger nicht mehr. Das Wahlergebnis ist die Konsequenz.

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