/Kleinbockedra: Im Dorf ohne Wessis

Kleinbockedra: Im Dorf ohne Wessis

Früher hörte man hier keine Kreissäge, so einfach ist das. Da gab es keine Mähdrescher oder Motorsensen oder Traktoren. Und niemand ist falsch von der Autobahn abgebogen, durch den Ort gerast und im Rückwärtsgang wieder raus.

Gerhard Lorenz, gelernter Fernsehmechaniker und seit 1964 auf dem Hof – Hausnummer 4 –, sieht rüber zu Heidrun Lorenz, seiner Frau, “das älteste Ehepaar von Kleinbockedra”. Sie sitzen in ihrer Stube und erzählen von den Festen, die es im Dorf einst gab. Das Maibaumsetzen. Die Jahresendfeiern der Feuerwehr.

“Das Dorf war zu DDR-Zeiten schöner. Gemütlicher”, sagt sie.

“Nein, sicherer”, sagt er.

“Abends ging man raus und hat ein Schwätzchen gehalten.”

“Oder eine Flasche Bier getrunken.”

Und hier, in ihrem Wohnzimmer, war damals die “Schänke”. “Ohne die Vertäfelung an der Wand. Dort war Sandstein.” – “Da haben die Männer immer ihre leeren Schnapsgläser draufgestellt.”

“Vielleicht haben wir besser gelebt als heute.”

Kleinbockedra: Himmel über Thüringen: Kleinbockedras Umgebung.

Himmel über Thüringen: Kleinbockedras Umgebung.
© Meiko Herrmann für ZEIT Online

Die Lorenz’ sind Bewohner der kleinsten selbstverwalteten Gemeinde Ostdeutschlands. Kleinbockedra: ein Idyll zwischen Wald und Hügeln des thüringischen Saale-Holzland-Kreises. Sechs Kilometer südöstlich von Jena, knapp drei Quadratkilometer Fläche. Ein Friedhof, ein Spielplatz, eine Bushaltestelle. 17 bewohnte Häuser. 36 Menschen. Davon aus Westdeutschland: null.

Anders als in den Nachbarorten ist nach der Wende kein Westdeutscher nach Kleinbockedra gezogen, in dieses Stück ostdeutsches Land, auf dem man finden kann, was viele suchen: Natur, bezahlbare Miet- und Kaufpreise. Die Nähe zur Stadt.

Nicht eine Westdeutsche wohnt in diesem Ort mit Fachwerk, Holzscheitstapeln und Jägerzäunen. Wo man zu flüstern beginnt, so still ist es, und der Himmel auffällt, weil wenig von ihm ablenkt. In “Bocker”, wie man hier sagt, gibt es keinen Bäcker, keine Kirche, keine Schänke mehr, und die Straße, die sich durchs Dorf windet, heißt “Dorfstraße”. Sie führt um eine Verkehrsinsel und dann zurück in die Richtung, aus der man gekommen ist: aus Kleinbockedra hinaus. 

Fehlt hier der Platz? Zieht lieber ins Mainzer Umland, wer aus Mainz kommt? Oder wollen am Ende doch alle nach Berlin?

Oder liegt es auch am alten leidigen Thema: dass man immer noch “Wessi” und “Ossi” sagt und Vorurteile weiterträgt wie ein kostbares Erbstück?

“Ich sag mal”, sagt Gerhard Lorenz, “kommt drauf an, wie sie sich aufführen, die Wessis.” Er lacht. Einen Wessi kannte er, das war ein “typischer”. “Sohn vom Großbauern, der in den Westen abgehauen ist.” Er trug einen schwarzen Mantel und Akten unterm Arm und unterstellte den Bockerschen, sie hätten seinen goldverzierten Pferdeschlitten – “wie es sie früher gab” – geklaut. Lächerlich, sagt Lorenz, wann hätten sie das tun sollen? “Der Arbeiterbus kam halb sechs. Früh halb sechse fort, abends halb sechse heim. Und dann gings aufs Feld.”

Sicher, der Osten habe Vorurteile, sagt er. Nicht nur gegenüber dem Westen. Obwohl sie nach dem Krieg Vertriebene aus Pommern und Schlesien im Dorf aufgenommen hätten – im eigenen Hof eine Mutter mit drei Kindern – sei man “Fremde” nicht gewohnt. “In der DDR gab’s keine Gastarbeiter aus Griechenland oder Italien.” Und die sogenannten Vertragsarbeiter aus Polen und Vietnam? “Die sind nicht aufgefallen. Die waren so ruhig.”

Wie haben Sie beide den Westen erlebt?

“Normal.”

“Ich hab erst mal dumm gefragt, wie man ‘ne Kiwi isst.”

Kleinbockedra: 17 bewohnte Häuser. 36 Einwohner. Davon aus Westdeutschland: null.

17 bewohnte Häuser. 36 Einwohner. Davon aus Westdeutschland: null.
© Meiko Herrmann für ZEIT Online

Die Lorenz‘ wissen, wer im Dorf Stasi-Offizier und “in der Partei” war. In den Neunzigern wollten sie eigentlich ihre Akten einsehen, haben dann aber die Lust verloren. “Dann liest du das und dir treibt’s den Blutdruck hoch und du hast nichts davon.”

Es ärgert sie, dass in Kleinbockedra fünf Laternen stehen und vor ihrem Hof keine. Und Ärgernisse gibt es in “Bockedra” einige, nicht immer halten sich alle an die Ruhezeiten. Manchmal zeigen sich die Nachbarn untereinander an, etwa die in Hausnummer 9 die in Hausnummer 10 (Anbau ohne Baugenehmigung) oder die in Hausnummer 10 die in Hausnummer 6 (Zwetschgenbaum geklaut), und die in Hausnummer 3 hat die in Hausnummer 2 zum Schiedsgericht geführt (Zaunstück demoliert).

Aber wegziehen?

“Nee”, sagt Gerhard Lorenz. “Es sei denn, man trägt mich raus.”

“Dorf der sieben Burgen” sagen sie im Umkreis auch zu “Bockedra”. Weil man dort angeblich für sich bleibe, hinter den eigenen Backsteinmauern, wenn man nicht gerade den Feldweg zur sogar angeblich schönsten Linde Thüringens entlangspaziere – und andere gern von sich fernhalte. Die Gräben zwischen den Burgen lägen tief, erzählt man sich, und nicht für jeden, der um Einlass bitte, werde die Zugbrücke ausgefahren.

Wie kommt man hier an?

Längengrad 11,65. Breitengrad 50,85.

Kleinbockedra: Josephine Kühnemund, 2015 aus Jena nach Kleinbockedra gezogen – in ein denkmalgeschütztes Gut, das sie und ihr Mann renovieren.

Josephine Kühnemund, 2015 aus Jena nach Kleinbockedra gezogen – in ein denkmalgeschütztes Gut, das sie und ihr Mann renovieren.
© Meiko Herrmann für ZEIT Online

Hausnummer 7. Kühnemunds sind 2015 aus Jena hergezogen und wurden lange “Neuheyners” genannt, weil die Vorbesitzerin des Hofes, den sie Stück für Stück renovieren, “Fräulein Heyner” hieß. “Würde Fräulein Heyner gefallen, wie wir ihre Zimmer verändern?”, fragt sich Josephine Kühnemund ab und zu. 31 ist sie und Assistenzärztin, Mutter, verheiratet; eine Frau, die sofort die Tür öffnet, Espresso anbietet und zur Scheune hinterm Haus führt, die sie zurzeit abtragen, damit der Garten größer wird und der Blick frei: Wolken und Wiesen. “Ob Fräulein Heyner ihre Blümchentapete vermisst?”

Ein denkmalgeschütztes Gut aus dem Jahr 1808, 200 Quadratmeter Wohnfläche. Einige Zimmer sind schon fertig, mit ihnen haben sich die Kühnemunds kürzlich bei der Zeitschrift Schöner Wohnen um “die schönste Modernisierung” beworben. Die Dachbalken sind freigelegt, die Flurwand leuchtet blau. In der offenen Küche stehen Kräutertöpfe, ein teurer französischer Bräter. 

Kleinbockedra ist womöglich offener als so manche westdeutsche Kleinstadt, wo sie den Rasen in ihren Vorgärten messen.

Josephine Kühnemund, Ärztin

Ursprünglich sei sie aus Leißling bei Weißenfels, erzählt Kühnemund, “wo die AfD so hohe Ergebnisse erzielt, dass man sich schämen muss”. Sie verstehe sich gut mit allen im Dorf, auch wenn es eigenwillige Charaktere gebe. “Stimmen, die mir nicht so passen.”

Kleinbockedra: Im Dorf ohne Wessis

Im Dorf ohne Wessis
© Meiko Herrmann für ZEIT Online

Als neulich in ihrer Yogagruppe in Großbockedra, dem Nachbardorf, darüber diskutiert würde, weshalb man deutsche Soldaten für Bundeswehreinsätze ins Ausland schicke und gleichzeitig “ängstliche Flüchtlinge” aus Kriegsgebieten aufnehme, hat sie sich eingemischt. “Ganz ehrlich”, Kühnemund hält ihre hellen Haare zurück, “ich würde mein letztes Geld zusammenkratzen und abhauen, um mein Kind zu retten, wenn es hier Krieg gäbe.”

“Diese generelle Angst vor etwas Fremdem”, sagt sie, die verstehe sie nicht. “Die gäbe es wahrscheinlich auch, wenn eine westdeutsche Familie herziehen würde.”

Andererseits: Es gebe auch eine große Offenheit im Dorf. Versuche, die Gemeinschaft aufrechtzuhalten. Zwei Mal im Jahr kommen alle zum “Dorfplatz”, zur Ecke um die Verkehrsinsel, um das Unkraut zu entfernen. Beim Rasenflächenmähen wird sich abgewechselt. Und als die Kühnemunds zuletzt Besuch von einem befreundeten Paar aus Sri Lanka bekamen, “wurde interessiert nachgefragt und freundlich gegrüßt”.

Da sei Kleinbockedra, meint Josephine Kühnemund, womöglich offener als manche westdeutsche Kleinstadt, “wo sie den Rasen in ihren Vorgärten messen”. Wenn sie mit ihrem Mann über die ehemalige Grenze fährt, drehen sie manchmal ein Ost-Klischee um wie Karten beim Memory. “War klar, dass wir jetzt im Westen sind”, sagen sie dann, “hier wird die Autobahn so schlecht.”

“Wieso bezahlt man den Leuten in Ost und West ungleiche Gehälter und befördert ihren Neid?”, fragt sie. “Wieso wurde meine Kommilitonin aus Bayreuth ständig gefragt, warum sie im Osten studiert?”

Und warum, fragen sie in Bockedra, fährt eine westdeutsche Journalistin in ein ostdeutsches Dorf, in dem es keine Westdeutschen gibt?

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