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Venezuela: Keiner wird gewinnen

Schon mittags wurde in Caracas gezählt. “78 Verletzte, 89
Verhaftete”, verkündete die Oppositionsabgeordnete Manuela Bolívar vor
Medien, denen sie von Gewalteskalationen während der Maiproteste
berichtete, “und diese Zahlen werden steigen.” Sie hielt bei ihrer Ansprache die
blutverschmierte Atemmaske eines venezolanischen Reporters
in die Höhe, der bei den Protesten von Einsatzkräften angegriffen und
schwer verletzt worden war. Tatsächlich stiegen die Zahlen weiter: In den frühen Abendstunden wurde eine getötete Person und rund hundert Verletzte
gemeldet, Human Rights Watch berichtete von 168 Festgenommenen, darunter 13
Kinder.

Sie alle sind Opfer von Zusammenstößen, die in Venezuela ein Ritual
geworden sind: Provokationen durch die Opposition, Repressionen durch staatliche Einsatzkräfte und informelle Milizen, die den amtierenden
Präsidenten Nicolás Maduro verteidigen. Keiner wird gewinnen – obwohl Präsident Maduro genau das zu sein vorgibt: der Sieger. “Die
Patrioten haben gewonnen”, sagte der 56-jährige frühere Busfahrer und
Gewerkschaftsführer, der 2013 das Erbe des verstorbenen sozialistischen
Präsidenten Hugo Chávez angetreten hatte.

Kurz zuvor war da ein bizarr erscheinender Umsturzversuch gegen ihn
gescheitert
– nicht der erste seiner Art. Der 35-jährige gelernte Ingenieur und heutige
Parlamentschef Juan Guaidó, der sich im Januar zum wahren Präsidenten des
Landes ausgerufen hatte, trat am 30. April überraschend gemeinsam mit dem Rechtsaußenpolitiker
Leopoldo López auf.

Massenproteste zugunsten Guaidós

López steht eigentlich wegen des Schürens gewaltsamer Proteste unter
Hausarrest, aber er wurde angeblich von seinen Bewachern befreit. Die zwei
Politiker riefen die Armee zum Umsturz Maduros auf und zeigten sich dabei umgeben
von einem Häuflein Soldaten der niedrigen Ränge. Sie ließen sogar einen
Protestzug auf eine bekannte Militäreinrichtung in Caracas marschieren, aber
daraus entwickelte sich nicht viel. Nach einem kurzen Gegenangriff der staatlichen Einsatzkräfte flohen etwa 25 dieser Soldaten in die brasilianische
Botschaft, Lopez fand beim spanischen Botschafter Unterschlupf, einen großen
Militäraufstand gab es nicht.

Doch trotz dieser vernichtenden Niederlage Guaidós gab es am 1. Mai trotzdem
wieder Massenproteste zugunsten des Übergangspräsidenten in mehreren Städten Venezuelas. Sie
trotzten der Repression durch Maduros Einsatzkräfte. Zwar waren da nicht
die millionenstarken Protestzüge auf den Straßen zu sehen, die der
Oppositionsführer Guaidó zu anderen Gelegenheiten schon auf die Straßen
gebracht hatte, aber immerhin. Die Regierung stellte dagegen ihrerseits Bilder von
Maduro-treuen Massendemos, auch die waren imposant. Allerdings waren das lange
vorbereitete, staatlich verordnete Demonstrationen zum Maifeiertag. Für öffentliche
Bedienstete beispielsweise ist es Pflicht, dort zu erscheinen.

Daraus lässt sich vor allem eines ablesen: Venezuelas Regierung und die
Opposition stecken in einem Patt, und aus eigener Kraft kommen sie nicht heraus.
Maduro sitzt immer noch im Regierungspalast, aber er schafft es offenkundig nicht,
die ständigen Demos zu beenden. Er nimmt es sogar hin, dass sein Herausforderer
Guaidó frei auf den Straßen herumläuft und zu Aufständen aufruft. Als neuesten
Plan kündigte der Oppositionschef eine Serie von Generalstreiks an. Bisher hat ihn noch niemand festgenommen.

Und selbst falls Guaidó in den kommenden Stunden oder Tagen ins
Gefängnis muss, was eine reale Möglichkeit ist: Dann ist zu erwarten, dass
ihn irgendein neuer und ebenso beharrlicher Oppositionschef ersetzt. Maduro
hat im Augenblick nämlich keine Chance, die tiefere Ursache der Dauerproteste
zu beseitigen: den verheerenden Kollaps der Wirtschaft, der Infrastruktur und
der Versorgungslage bei Gütern des täglichen Bedarfs. Diese Missstände haben
seine eigenen Leute durch Missmanagement, Korruption und ausgefallene sozialistische
Experimente verursacht. Und neuerdings hat Maduro noch ein zusätzliches
Problem: Sanktionen durch die USA. Diese Sanktionen haben
grenzüberschreitende Finanzgeschäfte empfindlich eingeschränkt, und sie haben
die Produktion des Hauptexportartikels Venezuelas – Rohöl – quasi zum Erliegen
gebracht.

Showdown der Großmächte

Denn der Kampf um die Macht in Caracas ist inzwischen zu einer internationalen
Angelegenheit geworden, zu einem Showdown der Großmächte. Oppositionsführer
Guaidó konnte sich Unterstützungserklärungen von 50 Ländern sichern, auch
Deutschland gehört dazu. Maduro hat ebenfalls wichtige internationale Helfer:
Er wird unter anderem gestützt von China, das ins venezolanische Öl
investiert hat, und von Russland, das in Venezuela keinen Durchmarsch eines US-gestützten
Oppositionspolitikers dulden will. Auch das sozialistische Kuba stützt Maduro
nach Kräften mit Militärberatern und Unterdrückungs-Know-how.

Unter diesen internationalen Playern herrscht allerdings ebenso ein
Kräftegleichgewicht wie zwischen der Opposition und der Regierung in Venezuela
selbst. Donald Trumps nationaler Sicherheitsberater John R. Bolton und sein Außenminister Mike Pompeo drohten erneut mit einer
US-Militäraktion in Venezuela, “falls erforderlich”. Russlands Außenminister Sergej Lawrow antwortete, dann müssten die USA mit “den
allerschwersten Konsequenzen” rechnen. Der Kreml hat nach Informationen der
Nachrichtenagentur Reuters bereits Waffen und 100 Militäroffiziere nach Caracas
geschickt – Russland selbst bestreitet jede Einmischung.

Also ist keine schnelle Lösung in Sicht. Kein Szenario, aus dem eine
der beiden Seiten siegreich hervorgeht und das Land befriedet. Das kann man
durchspielen, hin und her. Eine direkte US-Invasion oder ein Schlag gegen
Maduro persönlich? Das würde bei vielen Venezolanern wohl patriotische
Gegenreflexe auslösen. Es würde auch andere lateinamerikanische Länder – von
denen sich elf seit Wochen erstaunlich geschlossen gegen den diktatorischen
Regierungsstil Maduros aussprechen – einen und gegen die USA aufbringen.

Psychotricks der Amerikaner

Andererseits funktioniert aber auch nicht, was die USA schon seit
Wochen versuchen: lautstark drohen, dann aber doch
nichts Konkretes tun. Die USA haben bereits 500 bis 600 hochrangige Maduro-Getreue
mit persönlichen Sanktionen belegt, was aber nicht zum Umsturz geführt hat, und
versuchen es außerdem mit Psychotricks. Der konservative US-amerikanische
Senator Marco Rubio ist zu einem nebenberuflichen Liveblogger zur
Venezuela-Krise geworden und stößt zunehmend schrille Drohungen gegen das Regime
Maduros aus. Sicherheitsberater Bolton und Verteidigungsminister Pompeo streuen
seit Tagen Erklärungen, die zwar keinen überprüfbaren Wahrheitsgehalt haben,
aber offensichtlich Maduros Kabinettsmitglieder und Militärchefs verunsichern sollen:
Sie behaupteten, dass Maduro schon seine Flucht aus dem Land vorbereitet habe
und dass einige hohe Mitglieder seines Regimes längst hinter dem Rücken Maduros
mit der Opposition verhandelten. Die Amerikaner nannten sogar einige Namen,
darunter den des Verteidigungsministers in Venezuela, aber der dementierte
sofort. Auf Dauer funktioniert so etwas nicht, die Amerikaner machen sich bloß
unglaubwürdig. 

Und wenn es den USA, ihren Verbündeten und der venezolanischen
Opposition doch gelänge, die Armee zum Umsturz ihres Präsidenten zu bewegen und
Guaidó als den neuen starken Mann in Caracas zu installieren? Vermutlich würde
das auch nicht gut gehen. Dann wären die Erwartungen an einen raschen
Wiederaufbau viel zu groß und schnell frustriert. Guaidó dürfte in seinem tief
gespaltenen Land schnell oppositionelle Massendemonstrationen erleben: durch
die unterlegenen Maduro-Anhänger.

Was macht man in Situationen, in denen es keinen klaren Gewinner geben
kann? Verhandeln. Die einzige Lösung dürfte darin bestehen, die Maduro-Anhänger
an den Verhandlungstisch zu zwingen – von selbst tun sie das aller Erfahrung
nach nicht. Kräfte aus dem jetzigen Regierungslager müssen gemeinsam mit gemäßigten
Teilen der Opposition eine handlungsfähige Regierung bilden – und dann daran
arbeiten, die tiefen Spaltungen im Land zu überwinden. Es gibt leider keine
Anzeichen dafür, dass das von alleine und aus rein venezolanischer Kraft passiert.

Die
Venezuela-Krise braucht jetzt vor allem internationale Mittler – wie Mexiko, das es in weiser Voraussicht abgelehnt hat, sich auf eine
bestimmte Seite in diesem Konflikt zu stellen.

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