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EU-Wahl: Das Gefühl, Europäer zweiter Klasse zu sein

Am Anfang war Polen. Niemand weiß das wahrscheinlich besser als Günter Verheugen, der als EU-Kommissar die Osterweiterung vom 1. Mai 2004 entscheidend mitbestimmte. Immer wieder erinnerte er an den historischen Kontext: “Die Revolution von 1989 begann in Polen. Das dürfen wir nie vergessen.” Ohne Lech Wałęsa und die Solidarność, so lautete Verheugens Folgerung, hätte es keinen Mauerfall gegeben, keine deutsche Wiedervereinigung und auch keine EU-Erweiterung. 

In Polen stieß die Idee, die hart erkämpfte Souveränität teilweise wieder aufzugeben, allerdings auf gemischte Gefühle. Freiheitsheld Lech Wałęsa brachte es später im ZEIT-Interview auf die Formel: “Die EU war eine historische Notwendigkeit, keine geniale Idee.” Das Beitrittsreferendum im Juni 2003 fiel mit 77 Prozent Ja-Stimmen zwar eindeutig aus. Aber von Europa-Begeisterung konnte keine Rede sein. Nur gut die Hälfte der Polen ging überhaupt zur Wahl.

Freude kam erst mit dem ökonomischen Erfolg auf. Das Agrar- und Handelsland Polen profitierte stark von den EU-Strukturhilfen und vom Binnenmarkt. Die Wirtschaft wuchs nach 2004 jährlich um bis zu sieben Prozent. 2009, auf dem Höhepunkt der Weltfinanzkrise, konnte sich der damalige Premier und heutige EU-Ratspräsident Donald Tusk vor eine Europakarte stellen, auf der Polen als einziges Land grün eingezeichnet war. Überall dramatische Einbrüche – nur Polens Wirtschaft wuchs weiter.

Die Zustimmung zur EU erreichte bald Werte nahe 90 Prozent. Und sie hat seither kaum abgenommen. Das wiederum hatte – und hat – starken Einfluss auf die politische Entwicklung.

Gegen Polen läuft ein EU-Verfahren

Tusk war der erste Premier im postkommunistischen Polen, der zweimal in Folge eine Mehrheit erobern konnte. Seine proeuropäische Bürgerplattform gewann 2007 und 2011 klar gegen die rechtsnationale PiS mit ihrem euroskeptischen Parteichef Jarosław Kaczyński. Vier Jahre später jedoch kippte die Stimmung. Weltweit wuchsen damals die Vorbehalte gegen Globalisierung, Multilateralismus und Liberalismus. Rechte Parteien erhielten Aufwind, so auch in Polen. Nach einer Reihe innenpolitischer Skandale triumphierte die PiS bei den Wahlen 2015 und leitete eine “nationale Revolution” ein, samt Frontalangriff auf die demokratischen Institutionen.

Seither ist das Verhältnis zwischen Brüssel und Warschau schwer gestört. Die EU-Kommission eröffnete zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein Rechtsstaatsverfahren gegen ein Mitgliedsland, an dessen Ende der Entzug aller Stimmrechte stehen könnte. Theoretisch. Praktisch wird die sogenannte nukleare Option, von der in Brüssel die Rede ist, kaum zum Einsatz kommen, da sie Einstimmigkeit verlangt.

Der Streit mit der EU-Kommission prägt auch den Europawahlkampf. In Brüssel ist die Hoffnung groß, dass die freiheitsliebenden Polen Kaczyńskis PiS die Quittung für seine Politik erteilen. Aktuell 88 Prozent polnische EU-Anhänger müssten sich doch von der nationalistischen Nabelschau abgestoßen fühlen, lautet die Formel.

Doch die aktuellen Umfragen sprechen eine andere Sprache. Die PiS liegt stabil bei 40 Prozent. Die Opposition in Warschau hat zwar ein Bündnis mit dem Namen “Europäische Koalition” geschmiedet, das von weit links bis in die rechte Mitte reicht. Die Allianz kommt aber nur auf 35 Prozent. 15 Jahre nach dem EU-Beitritt, so scheint es, wissen die Polen zwar die Vorteile der Mitgliedschaft zu schätzen, ein Austritt Polens aus der Union ist kein Thema. Aber ein EU-Unbehagen ist geblieben.

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