/Nato: Deutschland muss mehr in die Verteidigung stecken

Nato: Deutschland muss mehr in die Verteidigung stecken

Elbridge Colby ist Direktor des Verteidigungsprogramms am Center for a New American Security in Washington. Er war von 2017 bis 2018 stellvertretender Untersekretär für Strategie- und Streitkräfteentwicklung im US-Verteidigungsministerium.

Wenige Aspekte sind an Deutschlands angespanntem Verhältnis zur eigenen Geschichte heikler als Rolle und Status seines Militärs. Viele Deutsche scheinen sogar zu denken, dass das Land angesichts seiner Vergangenheit keine starken Streitkräfte haben dürfe. Ein solches Militär, behaupten sie, sei mit Deutschlands Nachkriegsgeschichte und der Ablehnung seines militaristischen Vermächtnisses unvereinbar. Daher können sie sich nicht vorstellen, wie mehr Mittel für die Verteidigungsausgaben verantwortbar seien, ganz zu schweigen davon, eine gewichtige Armee zu entwickeln. Genau darauf wies beispielsweise Außenminister Heiko Maas im April anlässlich der Feierlichkeiten zum 70. Nato-Jahrestag in Washington hin.

Für einen Außenstehenden erscheint dies jedoch wie eine äußerst tendenziöse Lesart der deutschen Geschichte. Deutschlands ehrenwertestem historischem Vermächtnis gerecht zu werden, wäre in der Tat, einen sinnvollen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung der Bündnispartner zu leisten.

Damals noch eine starke Truppe

Es stimmt natürlich, dass die deutsche Geschichte von Militarismus und Eroberungen geprägt ist, doch das Ergebnis war nicht, Deutschland zu einem pazifistischen Staat zu machen. Tatsächlich wurde Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aus gutem Grund nicht demilitarisiert, sondern rüstete ab 1955 nach einer hitzigen Debatte sowohl unter den westlichen Alliierten als auch intern wieder auf und entwickelte die enorm fähige Bundeswehr. Beispielsweise besaß die Bundeswehr 1988 zwölf aktive Divisionen entlang der innerdeutschen Grenze, drei davon als Eingreifreserven.

Dieses Nachkriegsheer unterschied sich von früheren deutschen Armeen jedoch hinsichtlich des Verteidigungsschwerpunkts. Der war nämlich zum einen die Bundesrepublik selbst, aber auch die gesamte westliche Allianz, da Westdeutschland im Kalten Krieg der wichtigste Staat im alliierten Frontgebiet war. Ein weiterer wichtiger Unterschied lag darin, dass diese Armee nicht nur nationalen Weisungen unterlag, sondern vielmehr in die Strukturen des nordatlantischen Bündnisses integriert war. Was die Rolle Nachkriegsdeutschlands für sein Militär damals auszeichnete, war eine starke Truppe, die sich der kollektiven Verteidigung – und nicht dem Pazifismus oder der Abrüstung – des freien Europas innerhalb eines alliierten Rahmens verpflichtete.

In der Tat scheute sich die Bundesrepublik nicht, an ihre Nato-Mitverbündeten hohe Ansprüche zur Verteidigung ihres Territoriums zu stellen. Während des gesamten Kalten Krieges bestand Westdeutschland auf einer effektiven Vorneverteidigung des Staatsgebiets, auch bei militärischem Risiko für das Bündnis, denn eine Tiefenverteidigung auf Kosten des westdeutschen Territoriums erschien vielen erfolgversprechender, um den Einmarsch des Warschauer Paktes in den Westen abzuwehren. Die amerikanischen Streitkräfte bemannten zusammen mit britischen, niederländischen, belgischen und anderen nationalen Truppen die innerdeutsche Grenze, unterstützt von den Nuklearmächten des Bündnisses.

Diese Aufstellung funktionierte. Die Sowjets versuchten nie, das Bündnis zu überfallen, und gaben nach den Berlin-Krisen Anfang der Sechzigerjahre weitgehend den Versuch auf, in Europa Zwang auszuüben. Das historische Vermächtnis: Eine starke Nato-Aufstellung, zusammen mit politischem Engagement wie beispielsweise Rüstungskontrollverhandlungen, funktioniert.

Lasten wieder gemeinsam tragen

30 Jahre später. Die Welt tritt ein in eine Zeit großer machtstrategischer Konkurrenz. Die Vereinigten Staaten sind an die Nato gebunden, konzentrieren sich aber zunehmend auf China als vorrangige Herausforderung. Und Nato-Staaten in Osteuropa fürchten, dass Moskau, wie im Fall der Ukraine, seine wiedererstarkte Militärmacht gegen sie einsetzen wird. Die Nato-Verbündeten brauchen die Hilfe der Deutschen. Die Amerikaner brauchen die Deutschen, um eine größere Last zu schultern, während sich die Vereinigten Staaten mit China messen. Die Osteuropäer brauchen Deutschland, um russisches Abenteuertum abzuschrecken. Und der Rest der Nato braucht Deutschlands Führungsstärke.

Worin besteht also Deutschlands historische Verantwortung heute? Sie besteht darin, einen angemessenen Beitrag zur kollektiven Verteidigung des Bündnisses zu leisten, insbesondere gegen Russland, so wie es in der Stunde der Not selbst in so hohem Maß von dieser Allianz profitiert hat. Das Bündnis hat sich auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts als fairen Standard geeinigt, doch was die Bundesrepublik ins Feld stellen kann, ist wichtiger als die nackten Zahlen.

Um die Ost-Nato effektiv gegen Russland zu verteidigen, braucht es nicht die gesamten westlichen Streitkräfte der Achtzigerjahre. Nur ein paar leistungsfähige deutsche Divisionen wären nötig, die schnell vorrücken und zusammen mit den amerikanischen und anderen alliierten Truppen das Baltikum und Polen gegen einen russischen fait accompli verteidigen können. Zum jetzigen Zeitpunkt kann Deutschland – Europas größte und eine seiner gesündesten Volkswirtschaften – kaum eine einzige Division aufbieten. Wir sprechen lediglich über eine der Nato verpflichtete Truppe, mit einem Bruchteil der Stärke, die ein kleineres Westdeutschland Ende der Achtzigerjahre ins Feld führte.
Das scheint ein kleiner Preis zu sein, um den östlichen Nato-Staaten – Ländern, die im Zweiten Weltkrieg und unter sowjetischer Vorherrschaft so sehr gelitten haben – eine Ahnung der Vorneverteidigung zu geben, die Westdeutschland im Kalten Krieg erhalten hat. Was wäre ein besseres Indiz für Deutschlands vielgerühmten multilateralen guten Glauben, als ein konkreter, sinnvoller Beitrag zur kollektiven europäischen Verteidigung?

Den Deutschen gebührt Bewunderung dafür, wie umsichtig sie mit ihrer schwierigen Geschichte umgehen. Doch diese Geschichte befiehlt keine Passivität oder das Vermeiden harter Tatsachen wie das Bereitstellen einer effektiven Verteidigung. Nein, Deutschlands bewegte, aber auch stolze Geschichte zeigt, wie wir zusammen eine Gemeinschaft freier Nationen aufbauen und bewahren können – aber nur, wenn wir die Last unserer kollektiven Verteidigung gemeinsam schultern.

Hits: 102