/“Der neue Antisemitismus”: Der kosmische Hass

“Der neue Antisemitismus”: Der kosmische Hass

Formal vermag Deborah Lipstadts Schrift Der
neue Antisemitismus
nicht zu überzeugen. Die amerikanische
Holocaust-Forscherin hat sich die jüdische Studentin Abigail und den
Jura-Professorenkollegen Joe ausgedacht und ihr Buch über den gegenwärtigen
Antisemitismus als fiktiven Mailwechsel zwischen ihr und den beiden angelegt.
Der Dialog wirkt trotz des Versuchs, eine lockere Gesprächssituation zu
imitieren, auf den knapp 300 Seiten inklusive Fußnoten etwas bemüht. Während
die fiktiven Figuren eher als bloße Stichwortlieferantinnen dienen und teils
überaus naive Fragen stellen, antwortet Lipstadt mit monologisierenden, oft unverhältnismäßig
ausführlichen Belehrungen.

Dieses Format ist aber auch einem bestimmten Zweck
geschuldet: Die Publikation richtet sich klar an ein größeres und wohl auch
jüngeres Laienpublikum, das solche Bücher angesichts der Entwicklungen in den
USA und Europa tatsächlich dringender denn je braucht. Umfragen, Statistiken
und Forschungsergebnisse der letzten Jahre haben durchweg verdeutlicht, dass
der Judenhass seit 2000 international zugenommen hat. Dies unterstreichen nicht
nur so erschreckende Ergebnisse wie die der 2018 lancierten CNN-Studie über
Antisemitismus in Europa, sondern vor allem auch die judenfeindlichen Attacken,
Morde und Massaker der letzten Jahre in Israel, Frankreich, Belgien und zuletzt
bereits zweifach in Amerika. Beim Anschlag auf die Tree-of-Life-Synagoge in
Pittsburgh
starben dort im Oktober 2018 elf Menschen. Und erst am vergangenen Wochenende
erschoss ein mutmaßlich rechtsextremistischer Attentäter in der orthodoxen
Chabad-Synagoge nahe San Diego eine Frau und verletzte drei weitere Menschen,
darunter auch Mitglieder einer Familie, die vor Raketenangriffen der Hamas aus
Israel geflohen war.

Diese Eskalationen korrespondieren nicht zuletzt mit der
Effektivität neuer Kommunikationskanäle. Der Report, den ein von der Linguistin
und Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel geleitetes und von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft an der TU Berlin gefördertes Projekt im Jahr 2018
über den Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses veröffentlichte, stellt
in einem “10-Jahres-Vergleich” fest, dass sich die “Anzahl der antisemitischen
Online-Kommentare zwischen 2007 und 2018 z. T. verdreifacht” habe. Gerade junge
User erlebten im Netz “keine Grenzen mehr zwischen informationsvermittelnden
und rein meinungsbeeinflussenden, persuasiven Textsorten”. Diese “Zuordnungs-
und Klassifikationsprobleme” bewirkten “Intransparenz und
Orientierungslosigkeit in Bezug auf die Kategorie der Faktizität”.

Auch Deborah Lipstadt, die Schwarz-Friesels frühere Studien zur
Sprache der Judenfeindschaft zitiert, stellt in ihrem Buch fest, dass Antisemitinnen
ihren Hass über die sozialen Medien heute sehr viel leichter als früher “anonym
in die Welt hinausposaunen” könnten, wobei die Hate-Speech-Täter unserer
Tage sogar größtenteils aus der Mitte der Gesellschaft kämen und bedenkenlos
ihren Klarnamen und ihre Adresse verrieten. “Mit nie gekannter Leichtigkeit” fänden
Judenhasser heute “Gleichgesinnte und nutzen Internetplattformen, um ihre
Ansichten massiv zu verbreiten” und sich “auch jenseits ihrer Anhängerschaft
Gehör” zu verschaffen, warnt Lipstadt. “Über verschiedene Plattformen erreichen
die Hassredner ein größeres Publikum, mit dem sie früher nie in Berührung
gekommen wären. So werden offene Bekundungen von Hass zur Normalität.”

Lipstadt befasst sich in ihrem Buch mit fast allen nur
erdenklichen Schattierungen des derzeitigen Antisemitismus und seiner Kontexte.
Sie schreibt über Extremisten, antisemitische “Steigbügelhalter”, “ahnungslose”
Antisemitinnen und sogar über “höfliche” Judenhasser, die sie als “Salon-Antisemiten”
bezeichnet. Der “ahnungslose Antisemit” ist in Lipstadts Definition “eine
ansonsten oft nette und wohlgesinnte Person, der es überhaupt nicht klar ist,
dass sie antisemitische Stereotype verinnerlicht hat, denen sie weiter
aufsitzt”. Auf der anderen Seite wollten “höfliche Antisemiten” zum Beispiel
nicht, dass in ihrem Stadtviertel eine Synagoge gebaut werde, behaupteten bei
kritischen Rückfragen jedoch, sie hätten nichts gegen Juden, da sogar einige
ihrer besten Freunde Juden seien. Eine typische Schutzbehauptung, die man im
Englischen als tokenism bezeichnet
und als rhetorischen Beleg für eine antisemitische Alibipolitik verstehen
gelernt hat.

Es dauert in ihrem Text erstaunlich lang, bis Lipstadt eine
weit extremere Form des zeitgenössischen Antisemitismus anspricht. In ihren weit
ausholenden Ausführungen, die Exkurse über die Fatwa gegen Salman Rushdie und
seinen Roman Die satanischen Verse
(1988), den Mord an dem niederländischen Regisseur Theo van Gogh wegen seines
islamkritischen Kurzfilms Submission (2004)
und die weltweiten muslimischen Ausschreitungen wegen einiger Mohammed-Karikaturen
in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten (2005)
mit einschließen, kommt die Historikerin schließlich auf den islamistischen
Antisemitismus zu sprechen.

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