/Imfpungen: Ein tödliches Versäumnis

Imfpungen: Ein tödliches Versäumnis

Natürlich ist da das Wenn.

Wenn der Junge schon den typischen Ausschlag gehabt hätte, dann hätte sein Großvater vielleicht das Schild an der Praxis beachtet: “Bei Verdacht auf ansteckende Krankheit bitte klingeln!”

Wenn der Großvater geklingelt hätte, dann hätten die Arzthelferinnen den Flur geräumt, die Türen geschlossen und den Jungen statt ins Wartezimmer direkt ins Behandlungszimmer geführt.

Wenn nicht Montag gewesen wäre, dann wäre das Wartezimmer nicht so voll gewesen.

Wenn, wenn, wenn.

In Bad Salzuflen sagt ein Arzt: “Wenn wir bei dem Patienten erkannt hätten, dass das nicht nur ein Fieber ist, dann hätte man das vielleicht verhindern können.”

Christoph Holzhausen stützt sich auf einen Gehstock, er überquert einen Zebrastreifen, schaut auf den Asphalt, um nicht zu stolpern. Er steuert auf das Eckhaus am Marktplatz zu, ein gelber Altbau mit verzierter Fassade, anno 1906.

Holzhausen, ein schlanker Mann mit weißen Haaren und dichten weißen Augenbrauen, betritt das Haus, nimmt, weil es keinen Aufzug gibt, die Stufen in den ersten Stock. Er ist 79 Jahre alt, bis vor drei Jahren hat er hier gearbeitet. Er würde noch immer hier arbeiten, hätte er seit einer Herzoperation nicht diese Gleichgewichtsstörungen.

Sein Sohn hat die Praxis übernommen, und so stehen dieselben Wörter an der Tür wie früher: “Dr. med. Holzhausen, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin”. Eine von drei Kinderarztpraxen in der nordrhein-westfälischen Stadt Bad Salzuflen.

Christoph Holzhausen war ein halbes Jahrhundert lang Kinderarzt. Er sagt: “Ich hätte mir keinen anderen Beruf vorstellen können.”

Imfpungen: Christoph Holzhausen, 79, Kinderarzt

Christoph Holzhausen, 79, Kinderarzt
© Moritz Küstner für DIE ZEIT

Es ist ruhig, als er die Praxis aufschließt, ein Samstag. Langsam geht Holzhausen den Flur entlang, rechts und links Zimmer, Anmeldung, Behandlungsräume, am Ende des Flurs eine Tür, auf der “Wartezimmer” steht. “Wahrscheinlich war es hier”, sagt Holzhausen und zeigt mit seinem Gehstock durch den Raum. Grüne Wände, ein Bild mit Zebras, Giraffen und Elefanten, graue Sitzbänke, auf dem Parkettboden steht ein Spielzeugauto. “Sieht noch genauso aus wie damals.”

Damals, an einem Montag im Mai 1999, nahm hier eine unglückliche Verkettung von Zufällen ihren Anfang. Holzhausen spricht ungern darüber. Er will abschließen mit dieser Sache, die ihn noch immer quält, nach all den Jahren. Aber er will auch nicht wegsehen, jetzt, da im Fernsehen und in den Zeitungen seit Wochen schon von den Masern die Rede ist.

Tagesschau, 24. März 2019: “Angesichts einer Häufung von Masernfällen prüft die Koalition eine Impfpflicht für Kinder”.

Der Spiegel, 30. März 2019: “Impfen auf Befehl. Der bizarre Streit um den Schutz unserer Kinder”.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. April 2019: “Debatte über Masern-Impfpflicht für Kindergarten- und Schulkinder”.

Süddeutsche Zeitung, 15. April 2019: “Immun gegen Argumente. Die Impfskepsis wächst weltweit – und mit ihr die Zahl der Masernfälle.”

Die Masern – eine Krankheit, die längst ausgerottet sein könnte, ist wieder ausgebrochen, auch in Deutschland. Seit Beginn dieses Jahres gab es 101 Fälle in Nordrhein-Westfalen. 46 in Niedersachsen. 46 in Baden-Württemberg. 34 in Bayern. 19 in Rheinland-Pfalz. 17 in Hessen. 15 in Sachsen. Elf in Berlin. Vier in Hamburg. Zwei in Thüringen. Einen Fall in Schleswig-Holstein.

In Lage sagt eine Mutter: “Wenn ich damals nicht in die Praxis gegangen wäre. Wenn ich Michas Fieber einfach abgewartet hätte. Wenn … dieses Wörtchen. Das ist eine Sackgasse.”

Lage, eine Kleinstadt, 15 Autominuten entfernt von Bad Salzuflen. Ein moderner Neubau, vom Flur geht es in den Wohn- und Essbereich, rechts eine frei stehende Küche, links cremefarbene Sofas. Der Blick fällt auf ein Foto an der Wand, ein Junge, dunkle Haare, schiefes Lächeln, ein weißer Rahmen, an dem ein Herz hängt.

Imfpungen: Links: Oxana Giesbrecht, 46, Mutter von Micha. Rechts: Micha als Fünfjähriger im Urlaub in Kroatien

Links: Oxana Giesbrecht, 46, Mutter von Micha. Rechts: Micha als Fünfjähriger im Urlaub in Kroatien
© Moritz Küstner für DIE ZEIT

Oxana Giesbrecht, 46 Jahre alt, setzt sich an den Esstisch, eine schmale Frau, goldbrauner Bob, Hornbrille, manikürte Hände. Sie sagt, sie sei etwas aufgeregt. Auch sie will eigentlich nicht über das reden, was damals in Holzhausens Praxis begann. Trotzdem stimmt sie einem Gespräch mit der
ZEIT
zu, tritt in der Talkshow
Maischberger
auf. Sie hofft, wenigstens ein paar Menschen davon zu überzeugen, wie gefährlich diese Krankheit sein kann. Sie, die Mutter von Micha, der heute 20 Jahre alt wäre. An dessen Geburtstag sie immer eine Kerze anzündet.

An einem Freitag im Mai 1999 betritt ein elfjähriger Junge die Praxis von Christoph Holzhausen, er wird begleitet von seinem Großvater. In der Karteikarte des Patienten steht:
Schlechter Impfstatus.

Christoph Holzhausen: “Den Impfstatus habe ich immer auf die erste Seite der Karte geschrieben. Damit der gleich zu sehen war.”

Er untersucht den Jungen und notiert:
14.05.99 mit Fieber, Bauch- und Kopfschmerzen in Praxis.
Es sind Symptome, mit denen Holzhausen jeden Tag mehrmals konfrontiert ist. Er erinnert sich nicht mehr genau, aber wahrscheinlich hat er gesagt, was fast alle Kinderärzte in dieser Situation sagen: Bitte beobachten, ob es schlimmer wird.

Am 17. Mai 1999 kommt der Junge wieder.

Christoph Holzhausen: “An normalen Tagen hatten wir zwischen 80 und 110 Patienten in der Praxis. Montags war es immer am vollsten.”

Der 17. Mai ist ein Montag.

Christoph Holzhausen: “Der Junge war am Vormittag da.”

Auch Oxana Giesbrecht ist an diesem Vormittag in der Praxis. Ihr Sohn Micha, sechs Monate alt, hat das ganze Wochenende lang gefiebert.

Oxana Giesbrecht: “Ich dachte, bevor ich irgendwas verpasse, Mittelohrentzündung oder so, gehe ich besser zum Arzt. Ich hatte Michas großen Bruder dabei, der war drei Jahre alt. Im Wartezimmer war es voll. Der Gedanke, dass Micha sich mit etwas anstecken könnte, kam mir gar nicht. Ich war keine ängstliche Mama.”

Christoph Holzhausen: “Micha hatte ein Exanthema subitum, ein Drei-Tage-Fieber, harmlos.”

Aus Christoph Holzhausens Patientenakten lässt sich rekonstruieren, dass an diesem Vormittag im Wartezimmer auch ein neun Monate altes Kind mit einem Wangen-Ekzem sitzt. Ein zweijähriges, das eine Schnittverletzung hat. Ein fünfjähriges mit Bauchschmerzen. Ein zwölf Monate altes, das wegen einer Vorsorgeuntersuchung da ist.

Keines der Kinder ist gegen Masern geimpft. Sie sind zu jung. Oder ihre Eltern sind Impfgegner.

Nach Empfehlung der Ständigen Impfkommission des Robert Koch-Instituts in Berlin sollten Kinder “die 1. MMR-Impfung (MMR steht für Masern-Mumps-Röteln) im Alter von 11–14 Monaten und die 2. MMR-Impfung im Alter von 15–23 Monaten durchführen lassen”.

Auch Micha war noch nicht alt genug für die Impfung.

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