/Anthroposophische Erziehung: Das Geheimnis der Pfütze

Anthroposophische Erziehung: Das Geheimnis der Pfütze

Licht flutet durch die großen Fenster des Kindergartens. Draußen ist Frühling. Ein paar Kinder rutschten auf allen Vieren um den Esstisch, sie fauchen und brüllen, spielen Urwald. “Alle Löwen und Tiger bitte ins Nebenzimmer”, ruft der Erzieher Matthias Burchardt. Er nimmt ein Mädchen in Empfang, das seinen Kopf an der Schulter des Vaters geborgen hat. Der Vater steht noch einen Moment zögernd im Raum, bevor er langsam geht. Matthias Burchardt zieht das Kind an der Hand sanft zum Fenster, damit es dem Vater winken kann. “Manchmal brauchen die Eltern das mehr als die Kinder”, sagt er.

Am Erfurter Südpark liegt der Kindergarten Sonnenstrahl. Er ist von der Waldorfpädagogik inspiriert, doch das Betuliche, das man bei anderen anthroposophischen Einrichtungen in Westdeutschland manchmal spürt, fehlt ihm. Schon optisch wirkt er kantiger, er ist in der alten SED-Parteischule untergebracht, die als Monument des sozialistischen Realismus unter Denkmalschutz steht. Außen blieb das Gebäude unangetastet, innen jedoch ist etwas Neues entstanden. Die Menschen, die hier arbeiten, haben eine gesunde Skepsis gegen alles Ideologische. Wenn man in einer Stadt wie Erfurt mit dem Steiner’schen Baukasten experimentiert, muss man sich fragen: Wie kann diese Pädagogik hier und heute funktionieren – hier, wo die meisten Eltern nie mit Anthroposophie in Berührung gekommen sind und selbst ganz anders erzogen wurden?

Die Diskussionen über anthroposophische Erziehung sind gerade wieder aufgeflammt, zuletzt durch die Weigerung einer Berliner Waldorfschule, das Kind eines AfD-Politikers aufzunehmen. Diese Pädagogik sei rückwärtsgewandt, vertrete ein patriarchales Weltbild, so heißt es. Stimmt das noch? Bisher war die frühkindliche Erziehung nach Steiner weitestgehend in weiblicher Hand. Im Sonnenstrahl hingegen gibt es inzwischen in jeder Gruppe einen männlichen Erzieher oder Praktikanten. Hier wächst eine neue Generation von Männern heran, die väterlich im besten Sinne des Wortes ist, aber nicht patriarchal.

Matthias Burchardt spült ab nach dem Mittagessen. “Tätig” sein in Haus und Hof sollen die Erzieher der Waldorf-Philosophie zufolge.
© Thomas Victor für ZEITmagazin ONLINE

Natürlich ist es verlockend, den Waldorf-Kosmos zu karikieren: die Filzzwerge, die bedeutungsschwangere Sprache, das Namentanzen. Manchmal ist alles so harmonisch, dass man schreien möchte. Und der Vorwurf des Unmodernen? Der trifft zu. Doch gibt es ja zwei Weisen, zeitgenössisch zu sein. Man kann sich anpassen an die Zeit oder danach suchen, was fehlt in unserer Konsum-, Wettbewerbs-, Optimierungsgesellschaft.

Das Kollegium des Sonnenstrahls ist überzeugt, dass Kinder sich besser entwickeln und letztlich auch besser für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet sind, wenn man sie zunächst von den Anforderungen der modernen Konsumgesellschaft verschont. Die Welt der plastikverpackten Süßigkeiten, der Edutainment-Apps, der Prinzessinnen-Produkte, die gelangt ohnehin bis in die Garderobe eines jeden Kindergartens. Sollte es nicht jemanden geben, der sagt: Dieser Schrott der Moderne, der muss jetzt mal für ein paar Stunden draußen bleiben. Und übrigens, liebe Kinder, das braucht ihr alles gar nicht, um glücklich zu sein. Hier ist frische Luft, hier sind Freunde, jetzt zieht zusammen los und denkt euch was aus!

Im Garten blühen die ersten Kirschbäume, die Forsythien. Die Spielgruppe Haselnüsse drängt in die Garderobe, schnell in die Schuhe schlüpfen und raus ins Freie. Aus der Gruppe werden Grüppchen, die sich auf dem weiten Gelände verteilen. Drei größere Mädchen sammeln Feuerkäfer in einem roten Eimer und sehen ihnen bei der Paarung zu; zwei Kleinere kochen “Feensuppe” aus Erde, Sand und zerriebenen Blüten. Und neben einem umgefallenen Baumstamm knien ein paar Jungen. “Da ist ein Ameisenhügel”, sagt einer. “Nein, eine Ameisenfalle”, ein anderer. Er will die Tiere gerade mit den Füßen zerstampfen, da rufen die anderen: “Nicht! Die wollen auch leben!” Die Erzieher haben die Jungen im Blick und entscheiden, diesmal nicht einzugreifen.

Hits: 12