/Reife: Erwachsen werden? Eine Lebensaufgabe!

Reife: Erwachsen werden? Eine Lebensaufgabe!

Zwischen Anpassung und Rebellion: Warum es Menschen so schwerfällt, ihre Kindheit hinter sich zu lassen.

Um das Erwachsenwerden wird viel Wirbel gemacht. Im Kino ist ein eigenes
Genre von sogenannten Coming-of-Age-Filmen entstanden, der englische Ausdruck wird auch im
Deutschen benutzt, wahrscheinlich weil es weniger spießig klingt. Die Filme handeln meist
davon, wie man durch allerlei peinliche, manchmal auch schreckliche Erlebnisse auf
geheimnisvolle Weise geläutert wird, sodass man sich selbst anschließend ganz neu wahrnimmt
oder von seiner Umgebung neu gesehen wird. “Ich erkenne meine Tochter kaum wieder” (der
Vater), “die kleine Sarah erscheint mir plötzlich ganz anders, wie soll ich sagen, irgendwie
gereift” (die Nachbarin).

Aber was soll das heißen? Sind Jugendliche, wenn sie auf ihren 18. Geburtstag zusteuern oder die Schule abschließen – denn um diese Momente kreisen die meisten Filme –, plötzlich so etwas wie Weintrauben, deren Reife ansteht oder sich sogar über Nacht einstellen kann, wenn es gefroren hat? Und tatsächlich, wer in Deutschland Abitur macht oder in Österreich die Matura, der erhält ein sogenanntes Reifezeugnis. Es verspricht zwar nur das Recht, eine Universität zu besuchen, aber in dem Ausdruck schwingt noch immer etwas anderes mit, etwas Allgemeineres, das nicht nur mit Kenntnissen, sondern mit Moral und Verantwortung zu tun hat. Ist es das, was man in Urgroßväterzeiten als “sittliche Reife” bezeichnet hat?

In den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts scheint es jedenfalls noch möglich gewesen zu sein, jemandem das Abiturzeugnis trotz glänzender Noten zu verweigern, wenn es ihm an der sittlichen Reife mangelte. In der
ZEIT
(Nr. 16 von 1956) wurde von einer besonders unflätigen Abiturzeitung berichtet, die den Direktor eines Mannheimer Gymnasiums ernsthaft daran zweifeln ließ, ob er den Abiturienten ihre Zeugnisse aushändigen solle. Er schickte das Machwerk an die Schulaufsicht, die sich freilich gegen die drakonische Maßnahme aussprach. Aber vollständig absurd und gegen den Geist der Schule waren die Skrupel des Direktors nicht. Namentlich das Gymnasium sollte traditionell und soll in gewissem Maße heute noch zur Reifung, also charakterlichen Bildung der Schüler beitragen; und diese Bildung kann natürlich genauso scheitern wie alle übrige Bildung auch.

Es ist aber ebenso klar, dass eine solche, gewissermaßen staatlich oder gesellschaftlich erwünschte Reife etwas ganz anderes ist als jene innere Reife – Reife als seelische Entwicklung –, um die es den meisten Coming-of-Age-Filmen geht. Der berühmteste von ihnen, der sogar den deutschen Titel
Die Reifeprüfung
trägt, mit dem jungen Dustin Hoffman, der darin von einer verheirateten Frau verführt und immer weiter gegängelt wird, bis er sich schließlich befreit, macht eine regelrechte Front auf zwischen der Welt der Erwachsenen und der Welt der Jugend. Der Held kann nur erwachsen werden gegen die Erwachsenen – indem er tut, was ihnen nicht gefällt. Er reift, indem er sich unreif im Sinne der Sinne der Gesellschaft verhält.

Darin steckte viel vom rebellischen Geist jener Zeit (1967), aber noch heute kann durchaus unklar sein, ob sich überlegene Reife in der Anpassung an soziale Normen zeigt oder im Widerstand gegen sie. Auch die gegenwärtige Bewunderung für Greta Thunberg, die schwedische Jeanne d’Arc des Schulstreiks, enthält viel von diesem Zweifel – ob nicht am Ende die 16-jährige Greta sich erwachsener, nämlich mutiger und konsequenter den Herausforderung der Klimakatastrophe stellt als die Eltern und Lehrer, die passiv und fantasiearm auf Einhaltung der Schulpflicht beharren.

Natürlich, im Sinne des alten Begriffs von “sittlicher Reife” müsste man die Fähigkeit verlangen, sich innerhalb der rechtsstaatlichen Ordnung wirksam für den Klimaschutz zu engagieren. Das wäre nicht einmal besonders altmodisch oder gar reaktionär, denn gerade die Demokratie lebt von der Einhaltung formaler Regeln und geht mit deren dauerhafter Verletzung zugrunde. Auch sämtliche Jugendschutz- und Strafgesetze, die mit fein gestaffelten Altersstufen für “Mündigkeit”, “Vertragsfähigkeit” und “sittliche Reifung” (selbst diesen Ausdruck gibt es noch) arbeiten, leben von der Vorstellung, dass mit dem Erwachsenwerden die Einsicht in staatliche Regeln wächst und deren Befolgung verpflichtend wird. Man könnte sogar noch weiter gehen und die anarchische Lust an etwas so Albernem wie einem Schulstreik als unreif bezeichnen, erst recht die Erhebung eines Teenagers zum moralischen Orakel als typische Verhaltensweise von Erwachsenen.

Kinder selbst neigen nicht zur Romantisierung von Kindlichkeit; es ist dies eher eine Tendenz von Erwachsenen, die mit ihrem Erwachsensein nicht zurande kommen. Auch Donald Trumps Aufstieg gelang ja nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Unreife, der Wutausbrüche, Kontrollverluste und narzisstischen Realitätsverweigerung. In ihnen erkannte eine ganze Gesellschaft die Möglichkeit zu einer lustvollen Regression, wenn nicht gar im Dummen und Dumpfen eine überlegene Weisheit, im Mangel an Zivilisiertheit einen privilegierten Zugang zu Wahrheiten, die für besser erzogene Menschen verschüttet sind.

Aber wie immer man es sehen will – das Erwachsenwerden scheint auch eine politische Angelegenheit zu sein. Auf ein reines Privaterlebnis lässt es sich nicht beschränken, selbst wenn es als solches erlebt wird. Vielleicht lässt es sich so sagen: Ein Konzept des Erwachsenwerdens als vollständige Anpassung an die gerade herrschenden Verhältnisse würde der Demokratie jede Aussicht auf einen mündigen Bürger entziehen. Nicht einmal in den absoluten Monarchien früherer Jahrhunderte war der reine Untertan wünschenswert; der Herzog von Saint-Simon hat in seinen Erinnerungen an die Regierungszeit Ludwigs XIV. erzählt, wie die höfische Erziehung zu vollendeter Unterwürfigkeit am Ende dem König selbst gefährlich wurde, indem sie ihm jede Möglichkeit zur echten Beratung entzog. An diesem Defizit, an dem Mangel an Widerspruch und Meinungsstreit sind auch in unserer Zeit schon große Unternehmen zugrunde gegangen; ganz zu schweigen von den Familien, in denen ein Mitglied allen anderen seine Tyrannei aufzwingt.

Aber auch das umgekehrte Ideal des Erwachsenwerdens als Herausbildung vollendeten Rebellentums wäre in hohem Maße freiheitsgefährdend; und in der Konsequenz genauso diktatorisch. Nicht zufällig haben es nur totalitäre Bewegungen propagiert, um an die Macht zu gelangen – und dann ihrerseits völlige Anpassung zu verlangen. Es käme also auf einen vernünftigen Ausgleich zwischen Aufbegehren und Anpassung an; ein glückendes Erwachsenwerden bestünde dann eben darin, sich im Gegensatz von gesellschaftlichen Anpassungsforderungen und individuellen Freiheitswünschen maßvoll zu behaupten.

Das klingt nun auch wieder ziemlich spießig – irgendwie schon resigniert, mutlos in der Art der vielen Älteren, deren Erwachsengewordensein nur im Verzicht auf Abenteuer und Kindheitsträume zu bestehen scheint. Wenn man die Sache aber wohlwollend betrachtet, könnte man auch sagen: Weder der Einzelne noch die Gesellschaft haben immer vollständig recht, man muss mal der einen Seite, mal der anderen den Vortritt lassen, mal die eigenen, mal die fremden Interessen berücksichtigen. Alfred Adler, der große Begründer der Individualpsychologie (und eigentlich jeder modernen Psychotherapie), hat es jedenfalls so gesehen. Und der konfliktreiche Eintritt des Kindes in die menschliche Gemeinschaft war sein Lebensthema.

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