/Kulturorte: Hier sollten Sie unbedingt gewesen sein

Kulturorte: Hier sollten Sie unbedingt gewesen sein

1. Bruder-Klaus-Kapelle

Ein feste Burg ist unser Gott, oder anders gesagt: ein ganz schön grober Klotz. Steht abweisend herum, fremd und rätselhaft. Ringsumher Wälder, Felder, sanft geschwungene Hänge am Nordrand der Eifel, und mittendrin, zwölf Meter steil, ein Zeichen der Uneinnehmbarkeit. Doch sollte sich keiner täuschen: Dieser Gott führt ein Doppelleben. Wer hineinschlüpft durch die dreieckige Pforte, für den zieht sich die Welt zusammen. Abweisende Härte wird bergende Stille.

Zwanzig Jahre ist es her, dass ein Bauer und seine Frau auf die Idee verfielen, am Feldrain, zwischen Dinkel und wilden Malven, mit einem Kapellchen ihre Dankbarkeit zu bekunden: für ein reiches, behütetes Leben. Sie suchten einen Architekten und fragten nicht irgendwen, sondern den Schweizer Peter Zumthor, der oft als Mönch der Moderne beschrieben wurde, als betonverliebter Mystiker. Anfangs brummelte er streng, das ist so seine Art, doch irgendwann, als die Bauern schon dachten, es werde wohl nichts mit ihrem Kirchlein, rückte er seine Entwürfe heraus. Sehr eigen, sehr wundersam.

Aus 112 Fichtenstämmen ließ Zumthor eine Art Urhütte aufstellen, ein Glaubenszelt mit tropfenförmigem Grundriss. Dann wuchs, Schicht um Schicht, der äußere Betonmantel empor, angerührt mit dem rötlich gelben Sand aus der Umgebung und auf althergebrachte Weise gestampft. Viele Freunde und Mitstreiter der Bauern halfen mit, und als schließlich, für die oberste Schicht, auch der Architekt Hand angelegt hatte, wurde im Inneren ein Köhlerfeuer entzündet, das so lange schwelte, bis die Fichtenschalung halb verkohlt war und man die Stämme leicht herausziehen konnte. Zurück blieb: eine Höhle. Rau und geschwungen die Wände, an denen sich die Abdrücke der Baumborke zeigen. Wer möchte, darf das spirituell verstehen: als Hinweis auf die Anwesenheit des Abwesenden.

Geweiht ist die Kapelle dem Bruder Klaus, der als Niklaus von Flüe im 15. Jahrhundert von sich reden machte, weil er sein Normalleben verließ, um fürderhin Gott und ebenso den Menschen zu dienen. Ein Eremit und ein Schlichter, den man aufsuchte, um politische Streitfälle aufzulösen. Ein Mann, nicht von dieser Welt und doch mittendrin – und in dieser introvertierten Extrovertiertheit der Zumthorschen Kapelle sehr ähnlich.

Wie gemacht scheint das kleine Bauwerk, um die vielen harten Gegensätze der Gegenwart für einen Augenblick zu transzendieren. Ein Ort, der auf archaische Weise modern ist, weich und kantig zugleich, hell und dunkel. Wer hier eintritt und sich auf dem Bänkchen aus Lindenholz niederlässt, hält Einkehr bei sich selbst und unwillkürlich Ausschau nach dem Höheren. Denn die Kapelle hat keine Fenster und kein Dach, nur ein offenes Himmelsauge. Und so zieht es den Blick hinauf, wo die Wolken treiben oder gerade mal wieder ein kräftiger Schauer hereinpladdert. Hier unten ist man behütet, nicht aber verschluckt. Man riecht noch das Feuer, fühlt die Erde, spürt die Elemente – und stellt sich für einen Moment vor, wie es wäre, so ein Leben als Eremit, dem Wesentlichen verpflichtet.

Dann tritt man hinaus aus Zumthors Einsiedelei, und wie weit ist mit einem Mal der Horizont, wie hell der Himmel. Wie schön ist es, in der Höhle zu sein. Und wie belebend, sie zu verlassen.
Hanno Rauterberg

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2. Fußballmuseum

Das WM-Jahr unseres Missvergnügens ist Gott sei Dank vorbei – Zeit, sich daran zu erinnern,
wie unerschütterbar vom Versagen in russischen Vorrunden der Fußball die Alltagskultur prägt
und bereichert. Der beste Ort dafür ist das Deutsche Fußballmuseum am Dortmunder Hauptbahnhof,
die Kathedrale – und ein bisschen auch die Rumpelkammer – für der Deutschen liebstes Spiel.
Wie im Kölner Dom gibt es sogar eine Schatzkammer, in der all die WM- und EM-Trophäen in
feierlicher Stille vor sich hinglitzern. Aber das Haus bietet mehr als eine
Devotionaliensammlung (die Handschriften des heiligen Sepp Herberger, Mario Götzes Schuh aus
dem WM-Finale 2014 mit Original-Rasenspuren). Alle paar Monate wird hier eine Art Fan-Messe
gelesen, mit den schönsten Stadion-Chorälen zum Mitsingen.
Lieder aus der Kurve
heißt
die Reihe, hervorgegangen aus einer Initiative des Dortmunder Schauspielhauses. Dort lud die
eigens gegründete Band The Mundorgel Project zum Rudelsingen aus der legendären roten
Volksliederbibel. Beim Liederabend in der Arena des Museums animieren die vier Musiker das
Publikum zu den Klassikern des Genres, von
Ihr seid nur ein Karnevalsverein
(nach der
Melodie von
Yellow Submarine)
bis zur Regionalligahymne mit dem unsterblichen Reim
“Fußballzeit bei uns im schönen Wattenscheid”. Volkskulturpflege zum Herzerwärmen. Wer da beim
finalen
You’ll Never Walk Alone
keine Gänsehaut bekommt, ist schon durch einen
KI-Roboter ersetzt.

Christof Siemes

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3. Theater Memmingen

Die Intendantin Kathrin Mädler vom Theater Memmingen

Die Intendantin Kathrin Mädler vom Theater Memmingen
© Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Wenn es derzeit in Deutschland eine Bühne gibt, die vor Energie fast zu platzen scheint, weil
sie sich mit einem neu durchmischten Ensemble fortwährend verwandelt und ausprobiert und dabei
eine ganze Stadt erfasst, dann diese. Seit drei Jahren zeigt die 43-jährige Intendantin
Kathrin Mädler in Memmingen, wie Gegenwartstheater aussehen kann, das über
Programmheftfloskeln hinausweist. Vor drei Jahren begann sie ihre Amtszeit am Landestheater
Schwaben mit einer schwebenden, phantasmagorischen Inszenierung von Henrik Ibsens
Peer
Gynt.

Und schon auf der Premierenparty schien sich ein alter Spruch von Fidel Castro zu
bestätigen: “Revolution ist der Kampf zwischen Zukunft und Vergangenheit.” Während nämlich die
Regisseurin ihre Darsteller mit einer kleinen Ansprache vorstellte, zogen ein paar Gäste
(gewöhnt an den althergebrachten Ablauf des Doppelabonnements: erst Premiere, dann Abendessen)
schon mal mit klappernden Tellern zum warmen Buffet. Dass dies heute nicht mehr geschieht,
liegt daran, dass Mädler und ihr Team (allen voran die Dramaturgin Anne Verena Freybott) das
Memminger Publikum mit fröhlicher Beharrlichkeit erobert haben. Im Großen Haus und auf der
Studiobühne präsentieren sie ein auf zwei zentralen Säulen ruhendes, zu verschiedenen
Altersgruppen sprechendes Programm: Hier der Zugriff auf Klassiker – etwa in der gerade neu
ins Programm aufgenommenen Aufführung der
Räuber,
inszeniert von der 27-jährigen
Regisseurin Julia Prechsl. Und auf der anderen Seite die Vorstellung zeitgenössischer
Erstaufführungen, mit Vorliebe aus dem englischsprachigen Raum. “Unausprobierte Texte” nennt
Mädler diese großteils im Studio gezeigten Stücke, allesamt Versuchsanordnungen aus dem
Zentrum der Pop- und Medienmoderne. In der Spielzeit 2017/18 war zum Beispiel
4Min
12Sek

zu sehen, ein Stück des britischen Autors James Fritz. Ausgangspunkt ist das
Smartphone-Video eines Jugendlichen, das vielleicht die Vergewaltigung von dessen Ex-Freundin
zeigt. Es geht um die Abstumpfung im Zuge digitaler Weltwahrnehmung, um destruktive Energien
im Netz, um blinde Elternliebe, um Klassenverhältnisse.

Noch eine Entdeckung der letzten Spielzeit: Noah Haidles Zwei-Personen-Stück
Ada und ihre
Töchter

über eine abgehalfterte Seriendarstellerin, die in einer Mischung aus Wahn,
Verdrängung und Selbstbetrug lebt. Permanent verwechselt die Schauspielerin Ada ihre
Fernsehtochter mit ihrer wirklichen Tochter – die ihre Liebe bitter nötig hätte und im
Gegenzug ihre eigene Scheinwelt erfindet. Mädler selbst inszenierte das Stück des
amerikanischen Autors (Haidle kam auch zur Premiere) als präzise choreografierte Groteske mit
sarkastischen Einsprengseln. Setting ist ein ikeahaftes Bällebad (Bühnenbild: Mareike Delaquis
Porschka), aus dem Mutter und Tochter nur mit Kopf und Oberkörper herausragen. Zwei Frauen in
ihren Blasen.

Die Hauptrollen dieser beiden deutschen Erstaufführungen spielten Anke Fonferek und Elisabeth Hütter. Und zwar so hyperpräsent und begeisternd, dass man am liebsten sofort einen Fanclub
gründen würde. Fonferek (48) gehörte bereits vor Mädlers Ankunft zum Ensemble, die
freischaffende Hütter (33) wurde von ihr engagiert. Dass beide Darstellerinnen nun solche
Funken schlagen, folgt einem anderen, übrigens weitgehend ignorierten Gesetz der Revolution:
Gelingen kann sie nur, wenn man beim Vorwärtsstürmen auch das Große im Bestehenden
erkennt.

Bevor sie nach Memmingen kam, war Kathrin Mädler Dramaturgin und Regisseurin am Staatstheater
Nürnberg und am Theater Münster. In Nürnberg debütierte sie als Regisseurin mit Peter Weiss’
dokumentarischem Theaterstück
Die Ermittlung
über den Frankfurter Auschwitz-Prozess,
inszeniert auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände. Die Haltung, dass als Bühne nicht nur
das Innere eines Theaters taugt, sondern alles, was sich in einen Spielort verwandeln lässt,
brachte sie mit ins Allgäu. Am 4. Mai hat das preisgekrönte Stück
Am Boden
des
amerikanischen Autors George Brant Premiere: der Monolog einer jungen Pilotin der U. S. Air
Force, die von der Wüste Nevadas aus Drohneneinsätze in Afghanistan steuert. Spielort ist die
Lärmschutzhalle des Flughafens Memmingen.

Inzwischen sind die Vorstellungen fast ausnahmslos ausverkauft, und das Landestheater
Schwaben ist wirklich zu einem Teil der Stadt Memmingen geworden – und umgekehrt. Es gibt eine
Lange Nacht der Kultur und von Dramaturgen und professioneller Technik begleitete Spielclubs,
die in ein Bürgerbühnenwochenende münden. Das Theater bespielt die örtliche Kunsthalle, den
Stadtpark, neuerdings auch eine Freilichtbühne an der Stadtmauer, verwandelt sich im Sommer in
einen Biergarten mit aufgeschüttetem Sandstrand und zur Jahreswende in eine Silvesterparty. Im
Mai kommenden Jahres wird Memmingen Austragungsort der Bayerischen Theatertage sein, mit
insgesamt 20 Gastaufführungen. Gern würde Mädler den Theaterplatz dafür wieder zum Strand
aufschütten lassen. Wobei, das erzählt sie grinsend, das Wegschaffen des Sandes bis zum
letzten Körnchen deutlich aufwendiger gewesen sei als das Hinkarren.

In Memmingen wird klar: Ein Theater kann nicht darauf warten, dass die Bürger schon kommen
werden. Es tut gut daran, sich zuzubewegen auf die, von denen es lebt und für die es da ist.
Im übertragenen wie im konkreten Sinn. Und im Idealfall auf so mitreißende Weise wie Kathrin
Mädler und ihr Ensemble.
Katja Nicodemus

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4. Schuberts Haarlocke

Wie Kleckse kleben die beiden Siegel auf dem Papier, als hätte Franz Schubert mit dem
Leiermann aus der
Winterreise
Blutsbrüderschaft getrunken, mit dem “wunderlichen
Alten”, der am Ende dem Winterreisenden beisteht, als Einziger. Zwischen den Siegeln: ein
gläsernes Medaillon, aufgespannt an einer dünnen Kordel. In diesem Medaillon: eine Locke Franz
Peter Seraph Schuberts, und ob sich das Löckchen nach fast 200 Jahren immer noch “natürlich”
kräuselte oder eher zu Staub zerfiele, löste man es aus seiner Reliquienhaft – wer will das
wissen? 1863 wird Schuberts Leichnam auf dem Währinger Ortsfriedhof ein erstes Mal enterdigt,
man nimmt die Maße des Skeletts, schneidet besagte Locke ab und lässt ihre Herkunft 1888 – bei
der Überführung der Gebeine auf den Wiener Zentralfriedhof – notariell beurkunden. Urkunde und
Medaillon sind heute in Schuberts Sterbewohnung in der Kettenbrückengasse im Wiener 4. Bezirk
zu besichtigen. Die Locke, das schummrige Gassenkabinett, in dem der Komponist 1828 starb,
syphilitisch und an Typhus, 31 Jahre alt – so viel “reale Gegenwart” bietet eigentlich nur die
Musik. Die letzten Drehleiertakte etwa aus der
Winterreise,
in denen so viel Hoffnung
liegt wie Depression.

Christine Lemke-Matwey

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5. Haus Schminke

Die Vorstellung, jemand will nach Görlitz, Architektur bestaunen, die herrliche sächsische
Renaissance – und braust an Löbau vorbei und verpasst Haus Schminke! Schrecklich. Dieses Haus
ist ein kleines Wunder der internationalen Moderne, ein Kunstwerk von Hans Scharoun, der sich
mit Mies van der Rohe, Le Corbusier und Frank Lloyd Wright ein Nase-an-Nase-Rennen um das
erstaunlichste Wohnhaus lieferte. Hier: eine Nudelfabrikantenvilla. Sieht aus wie ein in
Sachsen gestrandetes Schiff, das sich mit Schwung aus dem Garten erhebt und spielerisch
Treppenaufgänge und Decks gegeneinander verschiebt, als vertreibe es sich auf elegante Weise
die Zeit bis zur nächsten Sintflut. Hans Scharoun war aus Bremerhaven gebürtig, er liebte
nautische Elemente. Virtuos aber baute der Professor aus Breslau fluide, atmende Innenräume.
In diesem Erdgeschoss tobten einst vier Kinder durch einen großen pulsierenden Raum, der Küche
und Esszimmer und Wohnbereich umfasste und von allen Seiten Licht aus dem Garten empfing, der
seinerseits Grüße in den Wintergarten schickte, wo Pflanzen aus dem Boden sprossen. Im ersten
Stock winzige Rückzugsräume. Stylishes Linoleum, zarte Farben. Ab jetzt können Bewunderer
diesen restaurierten Klassiker wieder besichtigen, darin Feste feiern, ja sogar dort
nächtigen.
Susanne Mayer

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6. Sowjetisches Ehrenmal

Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park, Berlin

Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park in Berlin
© Christophe Gateau/dpa

Noch kahl waren die Bäume an diesem ersten Frühlingstag, und die ganze, wunderbar monumentale
Anlage ließ sich umso besser überblicken. Der Ort traf mich vor einigen Jahren unvorbereitet:
dieser windstille Heroismus, die Weite, die Entschiedenheit des Siegers, vor der man ganz
klein und ehrfürchtig wurde und ein bisschen verlegen. Ich wusste schon, dass hier in
Berlin-Treptow das riesige sowjetische Ehrenmal steht, erbaut in den ersten Nachkriegsjahren,
aber ich hatte nicht geahnt, dass es noch so unmittelbar wirkt. Mit ein wenig Fantasie
überträgt sich die erhebende, die heitere, die optimistische Stimmung dieses Geländes noch
heute. Man muss sich hier gewaltige Massen vorstellen, die im sommerlichen Gleichschritt die
Anlage durchschreiten, am Abend und mit Fackeln natürlich, man hat nur die vereinzelten
Touristen, Punks und Hipster auszublenden, die in unserer Zeit für gewöhnlich zwischen den
Steinsockeln, den riesigen Skulpturen und Flammenschalen eher ratlos und wie aus der Zeit
gefallen umherirren.

Das Ehrenmal ist ganz auf den auf einer Anhöhe stehenden, wahnwitzig großen Soldaten
ausgerichtet. In der Rechten hält er ein Schwert, mit dem er ein Hakenkreuz zerschmettert hat,
in seinem linken Arm ein Kind, das sich an ihn schmiegt. Er blickt ins himmlische Weite (die
Vollendung des Kommunismus war, ist und bleibt doch etwas nie Errungenes). Man erreicht über
eine Treppe den Sockel der Statue. Von hier oben hat der Besucher das gesamte Ensemble vor
Augen. Erst hier erschließt sich ihm, dass er an einem Trauerort ist.

In der Ferne knien zwei steinerne Soldaten mit gesenkten Köpfen, links und rechts der großen
Achse, die auf sie zuführen, erblickt man Marmorsarkophage. Auf ihnen sind Szenen des Krieges
nachgebildet: vom Überfall auf die Sowjetunion bis zur Zerschlagung des Nazi-Regimes. Die
Drastik wird durch den dargestellten Heldenmut gemildert – und vielleicht dient ja das
Heroische seit je vor allem zum Trost der Hinterbliebenen. Goldene Inschriften sind auf jedem
Sarkophag eingraviert, Sätze von Stalin, die von “grenzenloser Tapferkeit”, von
“Standhaftigkeit”, der “Kunst zu siegen” der Soldaten erzählen, die millionenfach im Kampf
gegen die Deutschen den Tod fanden. Zur etwas heiklen Ambivalenz dieses Ortes zählt, dass im
berechtigten Anliegen, der Gefallenen zu gedenken und den Humanismus zu predigen, sich
gleichzeitig ein Massenmörder ein Denkmal gesetzt hat.

Die Sowjetunion hat erstaunlich großen Wert darauf gelegt, sich sofort nach ihrem Sieg
geschichtspolitisch zu verewigen – es ist eine der monumentalsten von all diesen Stätten in
Berlin und Ostdeutschland, die gleich nach Kriegsende in Angriff genommen worden sind, als
habe es nichts Dringenderes zu tun gegeben. In Treptow hat sie der damals berühmte Bildhauer
Jewgeni Wutschetitsch konzipiert, der in Wolgograd und Kiew noch weitaus wuchtigere Monumente
errichten ließ.

An diesem seltsamen Ort hat das untergegangene Sowjet-Imperium unbeschadet überlebt. Wer hier
hinfährt, begreift, dass es sich als ewige Macht dachte, und weiß, dass es nur die paar
Jahrzehnte existierte. Weniges berührt doch mehr als etwas Stolzes, das zerbrach.
Adam Soboczynski

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7. Balzer Herrgott

Wenn ich an Denkmälern vorbeigehe, packt mich der Vergänglichkeitsrausch. Er speist sich aus
der Gewissheit, dass ich in 50 Jahren nicht mehr sein werde (muss). Schillers und Goethes
Denkmäler werden aber noch da sein – am selben Ort und in vielleicht noch größerer Einsamkeit.
Diese über ihre Zeit hinausragenden Gestalten haben etwas zutiefst Verlorenes. Anders ist es,
wenn ich im Schwarzwald, zwischen Wildgutach und Neukirch, zum Balzer Herrgott gehe. Mit
diesem Denkmal verbindet mich etwas: die Hinfälligkeit. Der Balzer Herrgott ist eine in eine
Buche eingewachsene Christusfigur, die seit einem Jahrhundert mit dem Baum kämpft. Zahlreiche
Legenden drehen sich um die Frage, woher die Figur stammt und wer sie am Baum befestigt hat,
von dem sie halb verschlungen wurde. Zwischen den Weltkriegen, heißt es, seien noch die Lenden
des Christus frei gewesen, nach dem Krieg war sein Rumpf bis zur Brust überwallt. Heute sieht
man noch seinen zur Seite geneigten Kopf und die Halsgrube, der Rest der Gestalt ist
umschlossen, wobei das Holz, welches das Gesicht hält, wie ein Kragen oder ein gewaltiges
Geschlechtsteil erscheint. Das Kunstwerk könnte in einigen Jahrzehnten völlig verschwunden
sein. Man steht davor und denkt, womöglich sei im Inneren aller Dinge Gottes Gesicht zu sehen
und nur hier, im tiefen Schwarzwald, habe er vorerst darauf verzichtet, es zu bedecken.
Peter Kümmel

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8. Stummfilmkino

Das Kinopublikum ist verunsichert, neue Technologien machen der alten Aufführungsform
Konkurrenz. Eine Nachricht von heute? Nein, diese Klage ist über neunzig Jahre alt. Damals, in
den späten Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, begann der Siegeszug des Tonfilms,
der den Stummfilm abzulösen drohte. Kein Mensch, so schien es, brauchte künftig noch ein
Lichtspieltheater mit Live-Orchester und Hauskomponist. Heute sind es die Streamingdienste,
die das Kino bedrohen und ihm das Publikum abspenstig machen. Wie die Zukunft des Kinos
aussieht, wenn Filme sofort und überall verfügbar sind? Keiner kann’s sagen.

Das Berliner Kino Babylon scheint zu wissen, wie man in diesen Zeiten überleben kann – mit
Stummfilmkonzerten. Vor Kurzem hat das Traditionskino am Rosa-Luxemburg-Platz ein eigenes
Orchester gegründet und antwortet auf die digitale Revolution von heute mit den ästhetischen
Mitteln von gestern. Unter künstlerischer Leitung des Komponisten und Pianisten Hans Brandner
zeigt das Babylon die klassischen Meisterwerke,
Panzerkreuzer Potemkin, Nosferatu, Rosita,
Metropolis

oder auch
Berlin – Die Sinfonie der Großstadt,
alle mit Originalmusik.

Der Ort dafür ist ideal. Das Babylon ist einer der letzten erhaltenen
Stummfilmpaläste Europas, und demnächst steht auch die prächtige Orgel frisch restauriert
wieder zur Verfügung, bespielt von Anna Vavilkina, der einzigen Kino-Organistin Deutschlands
mit Festanstellung. Die (fast immer ausverkauften) Aufführungen sind von faszinierender
Intensität, denn dem Dirigenten Marcelo Falcão und seinen Musikern gelingt etwas Wunderbares:
Sie schaffen eine magische Zone zwischen Film und Publikum. Die Live-Musik ist keine
akustische Illustration, sie untermalt nicht bloß das stumme Sprechen. Nein, die Musik ist das
Lebendige; sie vitalisiert die gefrorene Gestik der Bilder, sie durchdringt den stummen “Text”
der Expression und macht ihn gegenwärtig. Die Aufführung der Stummfilme bekommt dadurch etwas
Theaterhaftes, als sei sie Kino und Bühne zugleich.

Neu im Programm ist Paul Czinners
Fräulein Else,
ein Stummfilm nach der Novelle von
Arthur Schnitzler, mit dem am 11. April 1929 das Babylon eröffnet wurde. Für dieses Werk
existiert keine eigene Komposition; Hans Brandner und Marcelo Falcão haben den Film auf
Grundlage von Hans Erdmanns
Handbuch der Film-Musik
im Stil der Zeit neu vertont. Wie
soll man das nennen? Es ist weder Remix noch Rekonstruktion, es ist Neues aus Altem – es ist
Kunst.

Thomas Assheuer

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9. St. Katharinen

St. Katharinen in Hamburg

St. Katharinen in Hamburg
© Axel Heimken/dpa

Licht, Wasser, Wort und Musik, das sind die Wirkstoffe jener Schönheit in Rot, die am
Hamburger Zollkanal, im Sand der Elbmarsch steht und selbst bei steigender Flut nicht umfällt,
was an sich schon erstaunen kann: St. Katharinen, eine der fünf Hamburger Hauptkirchen. Es
heißt, ihr Turmschaft aus dem 13. Jahrhundert sei das älteste Bauwerk der Stadt, das aufrecht
steht, in Hamburg ist halt viel Historisches umgefallen, und weniges war wirklich alt. St. Katharinen aber, die Wucht aus Backstein, ursprünglich Kirche der Seeleute, steht wind- und
wasserfest gegenüber der Speicherstadt, wo früher einmal Elbinseln Grimm, Cremon, Wandrahm
oder Kehrwieder hießen – Wortklanginseln. Nun tragen die Straßen, die St. Katharinen umgeben,
diese Namen. Die Kirche wurde ein aufgeklärt heller Ort, was auch an der Orgel liegt, die
schon der durchreisende Johann Sebastian Bach gern über Stunden spielte und die endlich
restauriert werden konnte, gut 70 Jahre nachdem die Bomben sie 1943 zerstört haben. So ist
Katharinen wieder zu einem Klangkörper geworden, in dem auch die Stille hell klingt. Aus Licht
ist die Kirche, weil ihre Pfeiler, strahlend weiß, im ebenso frisch geweißten Mittelschiff auf
eine Höhe von 29 Meter hochstreben. Mag sein, dass die etwa gleichaltrige Kathedrale von
Chartres in ihrer Mitte noch fast sieben Meter höher strebt. Aber steht sie am Wasser?
Elisabeth von Thadden

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