/Federico García Lorca: Mein Land braucht seinen Dichter

Federico García Lorca: Mein Land braucht seinen Dichter

Während in meinem Heimatland über die Exhumierung des Diktators Francisco Franco aus dem monumentalen Mausoleum im “Tal der Gefallenen” debattiert wird und man sich rechts und links auf die Wahlen vorbereitet, liegt der bekannteste und wichtigste spanische Dichter des 20. Jahrhunderts, Federico García Lorca, immer noch irgendwo in einem unbekannten Massengrab. Anfang des Jahres zerschlug sich die letzte Hoffnung, seine Überreste vielleicht in einem Park in der Nähe von Granada zu finden. Aber auch dort sei er nicht, sagten schließlich die Bodenanalysen. Wo ist er? Wir brauchen ihn und seine Werke mehr denn je. Sie könnten Antworten auf gegenwärtige Probleme liefern und uns noch einmal die so notwendige Empathie lehren, die wir in diesen Tagen so sehr vermissen.

Meinen ersten Kontakt mit dem verschwundenen Dichter schulde ich meinem Vater. Er war ein engagierter Bibliothekar, unsere Wohnung in Granada ähnelte einer Niederlassung der öffentlichen Bibliothek: Pausenlos wurden geliehene und eigene Bücher hinein- und wieder hinausgetragen. Aus den vielen Büchern, die sich dort befanden und unter denen Lorca einen ganzen Stapel einnahm, las mir meine Mutter einmal El lagarto está llorando vor. Es ist ein Kindergedicht aus dem Buch Canciones, das Lorca im Jahr 1921 veröffentlichte. Die Verse des Gedichts erzählen von einem Eidechsenpaar, das seine Trauringe verloren hat und beschreiben anhand dieser absurden Gestalten das Gefühl des Verlustes. Bis heute habe ich diese Zeilen im Kopf: “Oje, wie sie weinen und weinen / oh jemine, wie sie weinen”. Manchmal bilde ich mir ein, dass Lorca uns, gewollt oder ungewollt, schon damals auf sein eigenes Verschwinden vorbereitete, und die Leere und den Schmerz, den das Verschwinden nach sich ziehen würde.

Der Dichter und der Diktator

Federico García Lorca, geboren 1898, wurde im August 1936 in der Nähe von Granada – so genau weiß das niemand – von den Faschisten ohne Urteil erschossen und vergraben. Die Vorwürfe: “Sozialismus”, “Freimaurerei” und “homosexuelle Handlungen”. Der spanische Bürgerkrieg hatte gerade begonnen und war ein blutiges Vorspiel des Zweiten Weltkrieges. Der Krieg zerriss unser Land in zwei Teile – die Zweite Republik und Francos faschistischen Nationalkatholizismus –, zerstörte Familien und das blühende Kulturleben des Landes. Künstler wie Pablo Picasso oder der Dichter Manuel Machado gingen ins Exil. Über Lorcas Tod wurde nicht gesprochen. Francisco Franco, der aus dem Konflikt entstandene Diktator, verbot die Debatte.

Für mich dient der Dichter bis heute als Projektionsfläche unserer sozialen und politischen Sehnsüchte und all jener Themen, die in unserer Gesellschaft unausgesprochen bleiben. Lorca war ein Homosexueller, ein Feminist, ein Aktivist für das öffentliche Bildungswesen und gesellschaftliche Randgruppen und ein überzeugter Demokrat. Gleichzeitig gelang es ihm in seinen Theaterstücken und in seiner Lyrik das Volkstümliche und die Avantgarde zu vereinen. Dafür habe ich ihn schon als Jugendlicher bewundert, obwohl ich mich immer gefragt habe, wie er das damals eigentlich geschafft hat: progressiv leben und schreiben, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren? Mal ehrlich: Wie wurde ein Mann aus der Oberschicht ein Feminist?

Richtig rekonstruieren lässt sich der Weg zum Kämpfer für Gleichberechtigung nicht. Aber so viel steht fest: Er war es in seinen Werken. In seinem Theaterstück Yerma erzählte er bereits Anfang des 20. Jahrhunderts von einer unglücklichen Frau auf dem Land, die keine Kinder bekommen konnte und führte vor, wie begrenzt der Raum für Frauen war, wenn sie ihre Rolle als Mutter nicht erfüllten. Das Stück war eine Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen und wollte Frauen aus dem engen Korsett ihrer Zeit befreien. In einem anderen Drama, La Casa de Bernarda Alba, unterwirft eine Witwe ihre Töchter klosterähnlicher Bewachung, aus Angst vor deren Freiheit. In der letzten Szene des Dramas findet eine der Töchter jedoch die Kraft, sich selbst zu befreien: “Ich könnte ein gebäumtes Pferd mit meinem kleinen Finger stoppen”, sagt sie und schreit: “Es ist vorbei mit den gefangenen Stimmen”. Auch in der faszinierenden Gedichtsammlung Romancero Gitano wird die Gewalt gegen und die Unterdrückung von Frauen thematisiert. Diese Themen sind schon deshalb hochaktuell, weil der junge Chef der konservativen spanischen Volkspartei
beispielsweise weiterhin darauf beharrt, das Recht auf Abtreibung zu begrenzen und die neue rechtspopulistische Partei Vox versammelt bereits zahlreiche Anhänger – und nicht wenige Anhängerinnen – hinter sich, gegen das, was sie als “Genderideologie” bezeichnen.

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