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Bildungspolitik: Die geprellten Kinder

Die Erwartungen waren hoch, als der Universitätsprofessor Heinz Faßmann
zum Bildungsminister berufen wurde. Nach Jahrzehnten ideologischer Grabenkämpfe und
unbefriedigender großkoalitionärer Kompromisse bestand die Hoffnung, dass ein
Sozialwissenschaftler an der Spitze des Bildungsressorts nunmehr jene Herangehensweise
praktizieren würde, welche die OECD seit Langem empfiehlt: eine rationale, auf
wissenschaftlichen Befunden beruhende Schulreform.

Als Geograf brachte Faßmann zwar keine schulische Bodenhaftung oder erziehungswissenschaftliche Sachkompetenz mit. Aber angesichts seines Arbeitsschwerpunktes Migration durfte man vermuten, dass er mit den Problemen Integration, kulturelle Vielfalt und soziale Kohäsion sensibel umgehen und sich rasch mit den Schwachstellen des österreichischen Schulsystems vertraut machen würde. Das Ziel sollte eine effiziente Strategie zu dessen Sanierung sein.

Ein großer Irrtum.

In letzter Zeit hat Faßmann mehrmals demonstriert, dass er weder bereit noch imstande ist, sich von den neoliberalen Scheuklappen zu befreien, die ihm das Regierungsabkommen auferlegt. Besonders deutlich sichtbar wird dies bei drei bildungspolitischen Flaggschiff-Initiativen, bei denen der Minister wissenschaftliche Evidenz ignoriert und als naiver Vollzugsgehilfe der Vorgaben der Regierungsspitze agiert: bei der Einführung von Tests zur Prognose der Bildungskarrieren von Volksschulkindern der dritten Klasse; bei der Segregation von Kindern mit nicht deutscher Muttersprache in separate Klassen, und bei der Tabuisierung einer Reform der Sekundarstufe I.

Wie jeder andere Bildungsminister eines demokratischen Landes steht Heinz Faßmann vor einem komplexen Problem: Welche außerschulischen Faktoren produzieren Bildungsbenachteiligung? Welche schulischen Praktiken verstärken sie, und was können und sollen Bildungspolitik und Schule dagegen unternehmen?

Dass diese Fragen nicht rhetorisch sind, belegt der Nationale Bildungsbericht 2018. Die alle drei Jahre erstellten Berichte sind so etwas wie Betriebsprüfungen oder Gesundenuntersuchungen des Bildungswesens. Für den jüngsten Report wurden mehr als 250 Experten aus den Bereichen Bildungsforschung, Lehrerbildung und Schulverwaltung befragt. Sie sollten Themen benennen, die sie für die Weiterentwicklung des Bildungswesens als besonders relevant erachteten. Der am häufigsten benannte Bereich, für den offensichtlich der größte Handlungsbedarf besteht, ist “Chancengleichheit und Diversität”. Die Sorge der Experten um die demokratische Fairness des Bildungssystems ist, wie der Bericht faktenreich belegt, berechtigt.

Wie bei ministerieller Auftragsforschung üblich, sind die Formulierungen diplomatisch-konfliktvermeidend. Aber die Autoren konnten aufgrund der Datenlage gar nicht anders, als den harten Begriff Segregation zu verwenden, um zum Ausdruck zu bringen, dass die frühe schulische Auslese die soziale, ethnische und regionale Benachteiligung zahlreicher Kinder verstärkt und sie um die ihnen von Gesetzes wegen zustehende Chancengleichheit prellt. Eine der lapidaren Feststellungen der Experten: “Sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler sammeln sich vorwiegend an Neuen Mittelschulen (NMS).”

Daten wie diese sind nicht neu. Aber anstatt sie zum Anlass für ein umfassendes Programm kompensatorischer, chancenangleichender Bildung zu nehmen, beharrt Faßmann auf einem Vorhaben, das nicht nur fern von jeder wissenschaftlichen Evidenz ist, sondern die soziale Segregation im Schulwesen verstärken und die soziale Kohäsion schwächen wird: den sogenannten Kompetenztests für Kinder der dritten Volksschulklasse.

Dass Volksschulkinder getestet werden, ist an sich nichts Ungewöhnliches. In vielen Ländern werden damit die Eltern über den individuellen Lernfortschritt ihrer Kinder informiert, und Schulverwaltungen vergewissern sich durch Monitoring über das systemweite Leistungsniveau.

Es handelt sich um Diagnosen ohne Konsequenzen für die weiteren individuellen Schulkarrieren. Was jedoch absolut unüblich ist und international auf ungläubiges Kopfschütteln stoßen wird, ist das Vorhaben, neunjährige Kinder in “handwerklich Begabte” und “abstrakt-intellektuell Begabte” zu unterscheiden, und sie auf die “entsprechenden” Bildungsbahnen, nämlich Gymnasium oder Mittelschule, zu lenken. Es gibt keine rationalen Argumente, mit denen der Minister die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit dieser De-facto-Vorverlegung der schulischen Segregation begründen könnte.

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