/Nachwendezeit: “Dem Westen wird alles in die Schuhe geschoben!”

Nachwendezeit: “Dem Westen wird alles in die Schuhe geschoben!”

DIE ZEIT:
Frau Köpping, Herr Schröder, Sie sind beide Ostdeutsche und SPD-Mitglieder – aber Sie
denken völlig unterschiedlich darüber, woher die Wut im Osten kommt. Sie, Frau Köpping, sind
der Meinung, dass Ostdeutsche ein Trauma der Nachwendezeit in sich tragen. Und Sie, Herr
Schröder, halten das für Küchenpsychologie.

Richard Schröder:
Richtig. Ich halte den Zusammenhang für konstruiert.

ZEIT:
Warum, Frau Köpping, hat die Wut, die sich etwa bei Pegida zeigt, aus Ihrer Sicht mit den
Neunzigern zu tun?

Petra Köpping:
Ich bin oft bei Pegida gewesen, ich habe am Rande der Demonstrationszüge gestanden und das
Gespräch mit den Leuten gesucht. Natürlich gibt es viele Gründe, aus denen Menschen da
mitgelaufen sind. Aber eine Erfahrung mache ich immer wieder: Wenn ich Leute frage, was sie
gegen die Flüchtlingspolitik haben, reden sie kaum über Flüchtlinge.

ZEIT:
Worüber dann?

Köpping:
Sie reden vor allem über sich selbst. Über die Jahre nach dem Mauerfall und das, was ihnen
widerfahren ist. Meistens geht es um die gravierenden Veränderungen, die sie durchgemacht
haben, um Jahre der Arbeitslosigkeit, merkwürdige Entscheidungen der Treuhand. Diesen
Menschen fehlt es an Wertschätzung.

ZEIT:
Warum ist das Küchenpsychologie, Herr Schröder?

Schröder:
Die These suggeriert ja: Weil die Menschen in Ostdeutschland so Schreckliches erlebt haben,
bildet sich bei ihnen nun das Bedürfnis, auch andere zu erniedrigen. In dem Fall also die
Ausländer. Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass Leute noch heute unter dem leiden, was
nach 1989 zusammengebrochen ist. Ich weiß ja auch, dass viele darüber noch immer klagen.
Aber Rechtspopulismus oder gar Fremdenfeindlichkeit lässt sich nicht damit erklären, dass
jemand eine schwierige Zeit hinter sich hat.

ZEIT:
Wodurch stattdessen?

Schröder:
Wenn jemand eine Demonstration abhält “gegen die Islamisierung”, dann kann man nicht sagen:
“Eigentlich hast du nichts gegen Muslime, sondern die Treuhand hat dich traumatisiert.”
Sonst werden die Ostdeutschen pathologisiert und infantilisiert. Nein: Wer zu Pegida geht,
will Islamkritik äußern.

Köpping:
In keinem Satz habe ich je gesagt oder geschrieben, dass schlechte Erlebnisse in der
Nachwendezeit eine Entschuldigung für Fremdenfeindlichkeit wären. Dagegen verwahre ich
mich.

Schröder:
Darf ich zitieren aus Ihrem Buch?

Köpping:
Gerne.

Schröder:
Hier: “Viele scheinen bereit, sich von der Stimmung anstecken zu lassen, dass man scheinbar
das Recht habe, gegenüber anderen Gruppen von Menschen ungerecht zu werden, weil man sich
selbst ungerecht behandelt fühlt.”

Köpping:
Richtig, viele glauben, ein Recht darauf zu haben, gegenüber anderen ungerecht zu werden.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Solch ein Recht gibt es nicht. Aber ich komme nicht
umhin, zu beschreiben, was ich höre und erlebe. Die Leute haben eine Art Mäntelchen um. Sie
sagen: Jetzt habe ich einen Grund, meine Wut zu zeigen! Die Ursache für die Wut ist oft eine
andere als lediglich Unzufriedenheit mit der Flüchtlingspolitik. Daher habe ich gesagt: Wir
dürfen nicht beim Thema der Flüchtlinge stehen bleiben, sondern müssen gucken, was
dahinterliegt.

Schröder:
Also ich glaube nicht, dass Menschen dann freundlicher gegenüber Flüchtlingen sind, wenn
sie sich mal richtig über die Nachwendezeit ausgesprochen haben. Und die Wut gegenüber
Regierenden, Fremden oder den Medien kann man nicht einfach als Mäntelchen bezeichnen, um
dann zur Tagesordnung überzugehen. Das empfinde ich als ein Ablenkungsmanöver.

Köpping:
Wir gehen nicht zur Tagesordnung über. Wir reden doch über Flüchtlinge, ihre Belange und
die Probleme im Umgang mit ihnen. Im Gegenteil: Wenn Sie meine Arbeit nur ein bisschen
beobachtet haben, sehen Sie, dass sich kaum jemand so intensiv mit diesen Themen in der
Öffentlichkeit auseinandergesetzt hat wie ich.

ZEIT:
Herr Schröder, wir haben vorhin die Treuhand angesprochen, die nach 1989 die DDR-Betriebe
privatisierte. Ist sie verantwortlich dafür, dass der Osten nach 1990 wirtschaftlich
regelrecht zusammengebrochen ist?

Schröder:
In Frau Köppings Buch habe ich gelesen, dass das so sei. Auch da muss ich widersprechen.
Die Ost-Wirtschaft war nämlich schon im Herbst 1989 am Zusammenbrechen. Das hat der oberste
Planungschef der SED, Gerhard Schürer, so beschrieben. Im Oktober 1989 – Vereinigung und
Treuhand waren noch nicht in Sicht – sagte er, der Maschinenpark der DDR sei zur Hälfte
verschlissen. Ein drastischer Abbau von Arbeitsplätzen sei notwendig. Heute wird aber genau
diese Arbeitslosigkeit, die nach der Einheit einsetzte, der Treuhand zugeschrieben. Und da
frage ich mich, Frau Köpping: Warum kommt das in Ihrem Buch und in Ihren Reden nicht
vor?

Köpping:
Weil mein Buch mit der Zeit nach der Friedlichen Revolution beginnt. Und das, was Sie
geschildert haben, ist die ökonomische Betrachtung dieses Prozesses. Ich habe keinen
Widerspruch dazu. Aber mich interessiert, wie die Menschen den Prozess empfunden haben. Wenn
Sie jemanden im Osten nach der Treuhand fragen, können Ihnen 95 Prozent der Leute eine
eigene, persönliche Geschichte erzählen. Das wird hochemotional. Wir müssen ergründen, warum
die Treuhand für so viele in negativer Erinnerung ist.

Schröder:
Aber Sie bleiben ja nicht bei der Wiedergabe von Stimmungsbildern. Sondern Sie haben eine
ganz feste Auffassung darüber, was die Treuhand verbrochen hat. Hier kommt wieder ein Zitat
aus Ihrem Buch: “Ich glaube, am Beginn einer Aufarbeitung muss es ein Geständnis der
westdeutschen Politik und der Wirtschaft geben: Ja, im Osten haben westdeutsche Unternehmen
sich in hohem Maße eine potentielle Konkurrenz vom Hals gehalten.” Sie stellen hier
Behauptungen auf. Soweit ich informiert bin, haben Sie über die Treuhand aber gar nicht
geforscht.

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