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Hamburg-Marathon: Antje läuft zum letzten Mal

Der
Atem macht nicht mehr mit. Antje Dehnels Beine wollen laufen, aber in letzter
Zeit kriegt sie beim Joggen keine Luft mehr. Mit Jahrgang 1940 ist die
Ohlstedterin die älteste Teilnehmerin am Haspa-Marathon. Auch für den 28. April
2019 hat sie sich angemeldet. “Der Wille ist da. Ich verstehe nicht, warum der
Körper nicht funktioniert”, sagt Dehnel enttäuscht.

Die
kleine Hanseatin zieht ihr Training auf Sparflamme durch. Statt zu joggen walkt
sie mehrmals wöchentlich durch den Duvenstedter Brook. Kurze graue Haare, weißer
Rollkragenpulli, enge Laufhosen. Auch mit 78 Jahren wirkt sie muskulös. Sport
war schon immer Dehnels Ding: Leichtathletik und Turnen als Kind, Laufen,
Squaredance und Rückengymnastik im Alter.

In
Bewegung überwindet sie Grenzen. Bei mehr als 80 Marathons auf der ganzen Erde
hat sie mitgemacht, Hitze und Frost, Schmerz und Müdigkeit überwunden. Weiter,
immer weiter. Warum?

Es
begann Anfang der Achtzigerjahre. Antje Dehnel war über 40 Jahre alt, glücklich
verheiratet, Mutter eines Sohnes. Als gelernte Krankenschwester arbeitete sie für
eine Kindertagesstätte, in ihrer Freizeit trainierte sie im Verein für das
Sportabzeichen. Ein gutes Leben. Aber eine Herausforderung war es schon lange
nicht mehr.

Da
hörte sie vom Plan des ersten Hamburger Marathons. Es kitzelte in Dehnels
Bauch. Erst sachte, dann heftiger. Ob sie das wuppen könnte, so lange laufen? “Ich
wollte wissen, wie bescheuert man sein muss, um das zu schaffen”, sagt
Dehnel, Lachfalten im Gesicht.

Mit Laufnummer 184 fing alles an

“Bescheuert” –
bei Antje Dehnel war das ein Synonym für stark, diszipliniert, ein bisschen
verrückt. All das ist die Hamburgerin. Gemeinsam mit ein paar Freunden begann
sie zu trainieren, lief ab sofort zweimal wöchentlich durch den Duvenstedter
Brook, erst zehn Kilometer, bald 16. Jeden Sonntag 20. Ihr Mann radelte
nebenher und schnackte.

Am
25. Mai 1986 ging Dehnel bei ihrem – und Hamburgs – ersten Marathon an den
Start. Alte Fotos zeigen eine Mittvierzigerin mit langem, weißem Adidas-Shirt,
knappen Shorts, auffällig gut trainierten Oberschenkeln. Ihre braunen Locken
wehen im Wind, ein Matrosentuch wippt am Hals. Die Augen strahlen. Auf der
Brust prangt ihre erste Laufnummer: 184.

Antje
Dehnel streicht zärtlich darüber. Das alte Papier hat sie zusammen mit Fotos,
Urkunden und anderen Souvenirs von jedem Lauf ihres Lebens in Klarsichtfolien
gebettet. Sie füllen ein halbes Dutzend Aktenordner, an der Wand reihen sich
meterlang Medaillen aneinander, füllen Pokale Vitrinen.

Sie
sei so zufrieden gewesen nach dem ersten Marathon, erzählt Dehnel. Mit sich im
Reinen. Dieses Gefühl wollte sie wieder haben – und ihr Mann wollte, dass sie
glücklich war. Fortan richtete das Paar seine Urlaubspläne also nach
internationalen Marathonterminen: 1989
etwa lief Antje Dehnel durch das Brandenburger Tor, zelebrierte mit Tausenden
anderen Sportfreunden weinend die Wiedervereinigung.

Vor
einem Mittsommerlauf in Norwegen stand sie die halbe Nacht am Fenster, konnte
es nicht fassen, dass es draußen einfach nicht dunkel wurde. In Orlando rannte
Dehnel 1994 durch die Themenparks von Disney World und bestaunte wie ein Kind
gläserne Kutschen und das Feuerwerk am Himmel.

Läufe auf Hawaii und Zypern, in Russland und China

Der
Marathon öffnete Antje Dehnel und ihrem Mann die Tore zur Welt. Er führte sie nach Hawaii und
Zypern, Russland und China. Viele Lauffreunde tickten ähnlich. Zufällig
begegnete man einander mal auf der Strecke in Hongkong, mal im heimischen
Stadtpark.

Einer
der längsten Wegbegleiter ist Gerhard Falkner, mit Jahrgang 1937 der älteste
Hamburger beim Haspa-Marathon. “Fantastische Reisen erleben und gleichzeitig
fit bleiben”, beschreibt er seine Liebe zum Laufen. Weggefährtin Antje Dehnel
zeichne ein weiterer Antrieb aus: ihr unbedingter Wille zum Durchhalten. Von
den Freunden aus der Sportgruppe, die wie sie Anfang der Achtziger mit dem
Marathontraining begannen, ist sie die letzte Aktive.

Doch
war und ist der Laufsport nur eine ihrer Lebenslieben. Die wichtigste ist ihr
Mann, er starb 2011. Es fällt Antje Dehnel schwer, darüber zu reden, ein Blick
in ihre Augen sagt ohnehin alles. Ihr Mann begleitete sie nicht nur bei
jedem Trainingslauf, er fuhr bei den Marathons auch mit dem Auto an der Strecke
entlang. Passte sie ab, reichte ihr Wasser, Bananen, Riegel. Das war keine
Frage, das war Gesetz.

Am
15. Oktober 1960 lernte Antje Dehnel ihn kennen, beim Tanzen. “Rock ’n’ Roll”,
sagt Dehnel, “und da stand dieser Mann, der lachte so schön”. Im Bauch
kribbelte es, das tut es noch heute. Ihre Wangen färben sich rosa, wenn sie
davon erzählt. “Ich bin immer noch ganz verrückt nach ihm”, sagt sie leise.
Seit er tot ist, wartet niemand mehr am Wegesrand. Antje Dehnel läuft trotzdem –
aber sie fühlt sich allein.

Im Zweifel kommt der Besenwagen

“Vielleicht
will mein Körper das Ganze deshalb nicht mehr”, sagt sie, überlegt und schweigt.
Schaut aus dem großen Wohnzimmerfenster in Ohlstedt, ein Raubvogel schwingt
sich vor ihrem Haus in den Himmel. Probieren wird sie es dieses Jahr beim
Hamburg-Marathon trotzdem, vielleicht zum letzten Mal. Das Kribbeln im Bauch
ist noch da.

“Notfalls
sammelt mich ja der Besenwagen ein”, sagt Dehnel. Die 78-Jährige weiß natürlich,
dass auch Marathonläufer nicht vor der Realität wegrennen können. Aber
versuchen will sie es trotzdem – oder gerade deswegen.

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