/Boris Palmer: Werbung zeigt nie die Realität

Boris Palmer: Werbung zeigt nie die Realität

Als ich zum Wochenbeginn die Debatte über die neue Kampagne der Bahn verfolgte, hat mich das an eine Werbung für Cornflakes erinnert, die schon ein paar Jahre alt ist. Die Kinder sitzen in aufrechter Haltung am Frühstückstisch und gießen sich in den Strahlen der Frühlingssonne aus einer Glaskaraffe die schäumende Milch auf die knusprig-braunen und mit frischen Erdbeeren verzierten Maisflocken. Nach dem Essen greifen sie sich die säuberlich im Flur aufgereihten Ranzen, geben den Eltern noch ein Küsschen auf die Wange und machen sich lachend auf dem Weg in die Schule. 

Ich weiß nicht, was bei Ihnen los ist, aber bei mir geht es morgens ungefähr so zu: 

Kind 1: “Warum habe ich eine rote Tasse, ich will eine blaue!”

Eltern: “Die blaue ist in der Spülmaschine.”

Kind 1: “Wäääh!”

Kind 2 zu Kind 1: “Du hast keine blaue Tasse, du hast keine blaue Tasse…”

Kind 1: “Ich habe deine Pokémon-Karten, ich habe deine Pokémon-Karten…”

Kind 2: “Gib sie sofort her!”

Kind 1: “Nein.”

Eltern (verzweifelt): “Wo sind eure Rucksäcke?”

Und so weiter. Ich bin immer wieder froh, wenn wir es pünktlich aus dem Haus schaffen. 

Fußball und Nutellabrote

Für die Leserinnen und Leser, an denen die ganze Aufregung um die Bahn-Kampagne vorbeigegangen ist: Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat am Dienstag kritisiert, dass die Bahn-Werbung nicht die Realität der Gesellschaft abbilde. “Menschen, die so aussehen, als hätten sie keinen
Migrationshintergrund, sind bei den Bildern in der Minderheit”, schrieb er auf Facebook. “Ich würde eine Auswahl an Bildern, die unsere Gesellschaft
abbildet, für logischer halten.” Palmer erwartete Empörung, und er bekam sie.

Dazu kann ich nur sagen: Die Cornflakes-Werbung bildet auch nicht die Realität an Deutschlands Frühstückstischen ab. Ganz allgemein bildet Werbung eher selten die Realität ab. Oder glaubt irgendjemand ernsthaft, dass sich die Spieler der Fußballnationalmannschaft im Trainingslager morgens erst einmal ein dickes Nutellabrot schmieren? Dass Dirk Nowitzki sein Konto bei der ING-Bank hat? Oder dass Red Bull Flügel verleiht? Werbung bildet ab: Wünsche, Träume, Kuriositäten.

Ich war nicht dabei, als der Vorstand der Bahn die Kampagne in Auftrag gegeben hat. Aber ich glaube nicht, dass Angela Merkel oder Claudia Roth dahinterstecken. Es war wahrscheinlich so, dass die Bahn eine Agentur damit beauftragt hat, für die Bilderstrecke Personen auszuwählen, die die Grundwerte des Unternehmens zum Ausdruck bringen. Und wahrscheinlich hat man sich gedacht, dass eine Mischung aus Hautfarbe, Alter und Geschlecht bei den Protagonisten dem Leitbild der Bahn am ehesten gerecht wird.  

Nun kann man kritisieren, dass sich Großunternehmen solche Leitbilder setzen. Aber in einer Marktwirtschaft ist das zunächst einmal eine unternehmerische Entscheidung. Und wenn man sich in Konzernwelt so umschaut, dann fällt auf, dass Diversität für die meisten Unternehmen ein wichtiges Thema ist. Die Bahn ist da kein Einzelfall. 

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Unternehmen diesen Weg nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit beschreiten. Ganz offensichtlich lassen sich Rasierklingen, Notebooks oder eben Eisenbahnfahrten leichter verkaufen, wenn es in der Werbung bunter zugeht. Wahrscheinlich ist auch, dass hochqualifizierte Fachkräfte lieber in einem Betrieb arbeiten, der sich zu einer offenen Gesellschaft bekennt. 

Man muss es mit den Schlussfolgerungen nicht übertreiben, aber vielleicht haben die Unternehmenslenker und Werbemacher ein besseres Gefühl für die Wünsche und Sehnsüchte der Bundesbürger als so mancher Politiker. Es ist jedenfalls nicht gänzlich auszuschließen, dass die Durchschnittsdeutsche im Zug lieber neben Nelson Müller als neben Björn Höcke sitzt. Unter Marketinggesichtspunkten ist die Kampagne heute schon ein voller Erfolg. Seit Tagen reden alle über die Bahn – und ausnahmsweise einmal nicht, weil sie wieder zu spät kommt. 

In Wahrheit haben die Eisenbahner bei der Auswahl ihrer Werbemodels sowieso nur einen Fehler gemacht. Es ist der gleiche Fehler, den die Grünen bei der Auswahl ihrer Führungsspitze gemacht haben: Boris Palmer ist nicht dabei.

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