/Fortschritt: Vorwärts, und nicht vergessen

Fortschritt: Vorwärts, und nicht vergessen

Es gibt wenige Begriffe, die so eigentümlich und zugleich so
wirkmächtig sind wie der Fortschritt. Einen Kollektivsingular nannte ihn der
große Historiker Reinhart Koselleck einst, weil seine Magie darin bestand,
unterschiedliche Fortschritte zu Teilen einer größeren, scheinbar
unaufhaltsamen Mechanik zu machen: hin zu Besserem.

Doch seit einiger Zeit scheint es um den Fortschritt nicht
mehr so richtig gut zu stehen. Die berühmten Zeitdiagnosen der letzten Jahre
hießen: Abstiegsgesellschaft, Retrotopia, Gesellschaft der Angst. Und nun hat
auch noch das Institut für Demoskopie in Allensbach Beunruhigendes
herausgefunden: Die Deutschen sind so fortschrittsskeptisch wie noch nie seit
Beginn der Erhebung in den Sechzigerjahren. Auf die Frage “Glauben Sie an den
Fortschritt und dass die Menschheit einer immer besseren Zukunft entgegengeht”,
antworten nur noch 32 Prozent der Befragten mit Ja. Vor zwanzig Jahren waren es
noch 48 Prozent.

Für die Parteien müsste das eigentlich ein Anlass zur Sorge
sein – schließlich sind die meisten mit dem Fortschritt quasi genetisch
verbunden: Die sozialdemokratische Geschichtsphilosophie, der liberale
Universalismus, der christdemokratische Glauben an die Kräfte des Marktes, auch
die ökologische Moderne der Grünen – das Fortschreiten als Prinzip ist der
gemeinsame Kern der unterschiedlichen Weltanschauungen.

Bewahren statt fortschreiten

Umso rätselhafter ist es, dass die Parteien die Krise des
letzten halbwegs intakten Versprechens der Moderne kaum zu interessieren
scheint. Sie reagieren vielmehr mit einer Art konzertiertem Konservatismus. Die
SPD verteidigt den Sozialstaat, die Grünen die Humanität, die Union den
Standort Deutschland und alle zusammen verteidigen gerade in einem fast schon
beängstigenden Gleichklang “unser Europa” gegen die “Populisten und
Nationalisten”. Der Status quo ist die neue Querschnittsutopie.

Für all das gibt es natürlich gute Gründe. Nicht nur die
Konservativen
, sondern gerade auch die Progressiven haben etwas zu bewahren.
Und es wäre auch nicht weiter schlimm, wenn diesem Blick für das Bewährte ein
Sinn für das Mögliche, vielleicht auch das Nötige, zur Seite stehen würde. Aber
gerade Letzteres scheint den Verantwortlichen gerade ein wenig zu fehlen.

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