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Abtreibungsgegner: Ja mei, der Franz

Dass der Baum seine Kapelle verfehlt hat, ist für Franz Graf
wieder so ein Zeichen: Er tut das Richtige. Ein Herbststurm hat
den Baum im vergangenen Jahr umgeknickt wie ein Streichholz, jetzt
ragt da noch der mächtige Stumpf aus dem Boden, direkt neben der
Kapelle. “Gott sei Dank ist mir dieser Riese nicht aufs Dach
gekracht”, sagt Graf in breitem Oberpfälzisch. Auch der Glaskasten
blieb verschont, in dem ein Zettel hängt: Abgetriebene Embryos,
steht da, würden zerstückelt und zu Kosmetika verarbeitet. Franz Graf, 62, ist Landwirt und Abtreibungsgegner, ein radikaler. Er sagt,
er sei Lebensschützer.

Hier, an seinem Lieblingsplatz, zwischen Waldrand und
Wintergerste, hat er 2008 die Kapelle gebaut. Schlichte weiße
Mauern, eine kleine Holzschaukel daneben. Franz Graf nennt es einen
“Ort der Anklage, des Gebets und der Einkehr”. Andere nennen den
Ort eine Kapelle der Hetze. Denn an den Innenwänden der Kapelle
steht in schwarzen Lettern: “Der millionenfache Massenmord an
wehrlosen Kindern durch Abtreibung”.

Auf eine steinerne
Gedenktafel in der Mitte des Raums sind Fotos von spät
abgetriebenen Embryos gedruckt. Graf hat vor der Kapelle einen
weiteren Gedenkstein aufgestellt: “Der größte Völkermord in der
Geschichte der Menschheit”, steht dort, und: “Der ‚Holocaust‘
an ungeborenen Kindern”. In Pösing, seinem Heimatdorf zwischen
Regensburg und der tschechischen Grenze, störte das seit mehr als zehn
Jahren kaum jemanden.

Bis zum vergangenen Sommer, als Grafs Kapelle zehnjähriges
Jubiläum feierte. In seiner Rede sagte er: “Was ist Auschwitz
gegen diesen Massenmord an Kindern?” Eine Lokalzeitung griff den
Satz auf, so wurden Eva Kappl und Marius Brey auf den
Abtreibungsgegner aufmerksam. Die jungen Linken-Politiker stammen aus
einem Nachbarort von Pösing. Sie verfassten einen Brief an den
zuständigen Landrat, das Bistum Regensburg und an Pressevertreter.
In der Woche vor Ostern veröffentlichten sie ihn.

Kappl und Brey werfen Graf vor, mit seinen Vergleichen den
Holocaust zu verharmlosen. Er stelle “unzählige Male” die
Singularität der Shoah als schlimmstes Menschheitsverbrechen infrage. Sie kritisieren auch das Bistum Regensburg, das zur Eröffnung
der Kapelle 2008 den Stellvertreter des Bischofs geschickt hatte, der
das Gotteshaus weihte und Graf für sein Engagement lobte. Sie
kritisieren das Landratsamt, weil es zum zehnjährigen Jubiläum im
vergangenen Jahr den stellvertretenden Landrat entsandte. Seit
vergangener Woche melden sich Bundestagesabgeordnete zu Wort, der
Ortspfarrer distanziert sich von Graf, das Landratsamt rückt von ihm
ab und überregionale Medien berichten über die “Hass-Kapelle”.
Grafs Telefon hört kaum auf, zu klingeln.

“Wofür soll ich mich entschuldigen?”

Es ist Gründonnerstag, 9 Uhr morgens. Landwirt Graf ist seit halb
sechs auf den Beinen, hat auf seinem Hof schon die Kühe gefüttert.
Er will sich erklären, hat vorgeschlagen, sich direkt an der Kapelle
zu treffen. Ein fester Händedruck. Franz Graf blickt freundlich, als
er sagt: “Die Vernichtung von sechs Millionen Juden wird zu Recht
verurteilt, andererseits verlangen die Leute das Tötungsrecht an
ungeborenen Kindern – wofür soll ich mich entschuldigen?”

Pösing ist ein ruhiger Ort, der Bahnhof besteht nur aus einem
Wartehäuschen, vor dem jede Stunde die Oberpfalzbahn hält. Über
dem Ort mit seinen etwa 1.000 Einwohnern thront die Kirche St. Vitus,
93 Prozent der Menschen hier sind katholisch. Die Gemeinde gehört dem erzkonservativen Bistum Regensburg an. Ansonsten gibt es hier den
Gasthof Weitzner, einen Fußballplatz und eine Dorfsprechanlage, über
die der nächste Gottesdienst durchgesagt wird. Fährt man die Obere
Hauptstraße in Richtung Stamsried, sieht man schon von Weitem die
Kapelle von Franz Graf am Waldrand.

Abtreibungsgegner: Die kleine Kapelle soll größtmögliche Wirkung entfalten. Graf prangert an den Wänden den "millionenfachen Massenmord an wehrlosen Kindern" an.

Die kleine Kapelle soll größtmögliche Wirkung entfalten. Graf prangert an den Wänden den “millionenfachen Massenmord an wehrlosen Kindern” an.
© Julius Betschka für ZEIT ONLINE

Graf schließt die schwere Holztür der Kapelle auf. Drinnen kommt
er gleich zum Thema: Bis kurz vor der Geburt würden Föten heute
abgetrieben, viele dann bei lebendigem Leib zerstückelt. Teilweise,
erklärt Graf, würden die Föten sogar zu medizinischen Produkten
und zu Kosmetika verarbeitet. Das hat er deshalb auf diesen Zettel
gedruckt. Jeder solle das wissen. Es gäbe eine ganze
Abtreibungsindustrie, die Millionen damit verdiene. Wo er das gehört
habe? “Bei anderen Lebensschützern gelesen.”

Es ist eine gängige Verschwörungstheorie von Abtreibungsgegnern.
Was Franz Graf nicht sagt: 97 Prozent der Schwangerschaftsabbrüche finden bis zum dritten Monat statt. Also in
einer Zeit, in der das Embryo weder Schmerzempfinden noch
Bewusstsein entwickelt hat – alles andere sind streng
reglementierte Ausnahmen. Von solchen Fakten lässt Graf sich nicht
beirren. Er drückt einem sein “Buch” in die Hand. Es ist eher
ein Hefter, in dem er die gängigsten Argumente über Schwangerschaftsabbrüche
zusammengetragen hat, die meisten sind Mythen. Dazwischen steht “Holocaust”, “Auschwitz”,
“Völkermord”.

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