/Mitchell Baker: “Wir wissen als Gesellschaft nicht, was wir wollen”

Mitchell Baker: “Wir wissen als Gesellschaft nicht, was wir wollen”

Mitchell Baker ist die Vorsitzende der Mozilla
Foundation, die wiederum so etwas ist wie das gute Gewissen des Silicon Valley:
Laut Selbstbeschreibung will sie ein gesundes Internet fördern und das freie
Netz schützen. Baker hat die Stiftung selbst mit aufgebaut und führt sie seit 2003. ZEIT ONLINE hat die Mozilla-Chefin
in Berlin zum Interview getroffen.

ZEIT ONLINE: Frau Baker, die Technologieindustrie
steht seit Monaten in der Kritik: Spätestens seit dem Cambridge-Analytica-Skandal
muss sich Facebook für den Umgang mit Daten rechtfertigen, Amazon kürzlich für seine diskriminierende
künstliche Intelligenz im Personalmanagement
und Google-Mitarbeiter
haben gegen das sogenannte Project Maven protestiert, eine Kooperation des Unternehmens
mit dem Militär. All diese Fälle haben eine Gemeinsamkeit: Sie weisen auf grundsätzliche
ethische Probleme in der Technologiebranche hin. Muss sich das Silicon Valley
neu erfinden?

Mitchell Baker: Sagen wir mal so: Momentan tendiert man dazu, die Technologiebranche
isoliert zu betrachten, sie anders zu behandeln als den Rest der Wirtschaft.
Wenn wir uns Google und seine Arbeit an Project Maven ansehen, müssen wir uns
fragen, wie wir darüber denken, wenn so etwas in anderen Branchen geschieht.
Ist es immer abzulehnen, mit der Regierung an militärischen Projekten zu
arbeiten? Es ist wichtig, dass die Mitarbeiter in Technologieunternehmen
dagegen aufbegehren, wenn sie eine Arbeit als falsch empfinden. Aber es gibt
auch Fälle, in denen die Kooperation mit dem Militär als ethisch richtig angesehen
wird. Demokratien müssen sich verteidigen, da wäre es merkwürdig, die
Zusammenarbeit mit dem Militär generell als unethisch zu betrachten.

ZEIT ONLINE: Sie meinen, dass ein anderer Maßstab an
die Technologiebranche angelegt wird als an andere Industrien?

Baker: Ja, es gibt unterschiedliche Standards.
Das liegt auch daran, dass es lange so wirkte, als sei alles, was die
Tech-Industrie tat, gut. Die Branche schuf all diese neuen Dinge, die Welt liebte
sie dafür und fühlte sich großartig. Was für eine Welt! Und dieses Gefühl endet
nun. Jetzt schauen wir uns Technologie an, bemerken die Schattenseiten und
beginnen, all diese wirklich wichtigen ethischen Fragen zu den Geschäftsmodellen
zu stellen. Nun mag es einige Antworten geben, die nur für Technologie gelten –
aufgrund der Macht, die ihr innewohnt. Aber einige der Antworten, die wir
suchen, haben wir als Gesellschaft für andere Industrien längst gefunden. Und
es wäre wichtig, diese Perspektive einzubinden. Andere Industrien sind zum
Beispiel sehr viel regulierter als die Technologiebranche. Bislang zumindest.

ZEIT ONLINE: Aber hat sich die Tech-Branche nicht
auch immer als die gute Seite präsentiert, die großartige Möglichkeiten für die
Welt bereithält? Man denke nur an Googles früheres inoffizielles Motto “Don’t Be Evil”: Tu nichts Böses, das war eine starke Botschaft. Ist
die Kritik an den Tech-Unternehmen also nicht vor allem so massiv, weil sie
ursprünglich mit einer anderen Vision angetreten sind?

Baker: Interessant. Ja, das klingt plausibel. Diese
Sichtweise auf Technologie, die Sie beschreiben, hatten natürlich nicht nur die
Technologen. Auch wir als Konsumentinnen haben dieses Narrativ
geglaubt und es belohnt. Das war ein breiteres soziales Phänomen. Aber Ihre
Beobachtung ergibt absolut Sinn. Wir wussten immer, dass zum Beispiel die
Pharmaindustrie zwei Seiten hat. Die zweite Seite der Tech-Industrie entdecken
wir erst jetzt.

ZEIT ONLINE: Teil der Kritik ist, dass die Ideologie
des Silicon Valley etwas hervorgebracht hat, was der Internettheoretiker Evgeny Morozov als “Solutionismus” bezeichnet – als Idee, dass jedes gesellschaftliche Problem
mithilfe einer eindeutigen technologischen Lösung zu lösen sei, obwohl das
vielleicht nicht immer sinnvoll ist. Stimmen Sie dem zu?

Baker: Ich würde das etwas nuancierter formulieren. Technologie betrifft fast
jeden Aspekt der Gesellschaft oder wird ihn einmal betreffen. Extrem wichtig
wird sein, wie sie eingesetzt wird. Ich vergleiche das gerne mit Autos. Was hat
Fahrzeuge sicherer gemacht? Teils waren das Regulierungen, Anforderungen der
Regierung. Und teils war es eben bessere Technologie: Airbags, bessere Reifen, Sicherheitsglas. Ohne die technischen Fortschritte hätten
wir heute nicht diese erschreckend sicheren Autos. Wir haben die Probleme in
diesem Bereich erkannt, verstanden und Lösungen dafür gefunden. Die Lösungen oder,
besser, die Abschwächungen der Probleme, die wir mit neuen Technologien haben,
werden ebenfalls technischer Natur sein. Natürlich wissen wir noch nicht, wie
diese Lösungen aussehen könnten, das ist der schwierige Teil. Derzeit agieren
wir noch eher defensiv.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie mit defensiv?  

Baker: Ein Beispiel aus der Arbeit mit unserem
Browser Firefox: Facebook Container ist ein Add-on, also eine Art
Softwareergänzung, die wir für den Firefox entwickelt haben. Es beschneidet die
Möglichkeiten des sozialen Netzwerks, den Nutzerinnen und Nutzern überall im Web zu folgen und
Informationen über sie zu sammeln. Das ist ziemlich defensiv, weil es nur ein Scheibchen
des Problems löst: Facebook sammelt ja weiter Daten über alle anderen. Solche Lösungen sind aber wichtig, weil sie schon heute
helfen.

ZEIT ONLINE: Ein Problem, dem sich Mozilla in den
kommenden Jahren annehmen will, ist die Entscheidungsfindung von Maschinen. Was
ist daran in Ihren Augen das Kernproblem?

Baker: Dass die Verbindung zwischen Aktivität, Nutzen und Rechenschaft in diesem neuen,
global vernetzten System schwach ist. Was ich damit meine: Das Internet ist
global, Produkte funktionieren überall. Man kann aber die bad actors nicht von überall aus erreichen, weil es schwierig ist,
sie ausfindig zu machen und mit ihnen in Kontakt zu treten. Ein weiteres
Kernproblem besteht darin, dass wir als Gesellschaften manchmal nicht wirklich
wissen, was wir wollen. Ich finde zum Beispiel die deutschen Fragen zu
Facebooks Geschäftsmodell faszinierend. Das soziale Netzwerk verdient Geld mit
Werbung und die Gesellschaft findet das hierzulande nicht akzeptabel. Ein
klares, schönes Statement. Nur: Was heißt das eigentlich für deutsche Nutzerinnen
und Nutzer? Was ist die Lösung, die man gerne hätte? Was wäre, wenn
Facebook sagt: “Wisst ihr was? Dann ziehen wir uns eben aus Deutschland zurück,
denn wir mögen unser Geschäftsmodell”? Wie reagiert die Gesellschaft in diesem
Fall?

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