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Instagram: Die Sache mit der Avocado

Man könnte die Gegenwart und die sich verändernde Gestalt der Welt, in der wir heute leben, am Beispiel einer einzigen Frucht erklären: der Avocado. Dieser Beerenart, deren Frucht einen widersinnig großen Kern im Inneren trägt; deren schmieriges Fleisch derart nichtssagend schmeckt, dass man es mit Salz, Pfeffer und Öl genießbar machen muss, und das man außerdem nach dem Aufschneiden besser gleich mit Zitronensaft beträufelt, damit das Fleisch nicht unschön seine Farbe wechselt, von Gelbgrün zu Braun.

Es gibt bestimmt Menschen, die glaubhaft versichern können, ihnen schmeckten Avocados. Bei, sagen wir, Erdbeeren erschiene es trotzdem naheliegender. Erdbeeren mag jeder.

Die heißen auf Englisch strawberries, und dieser Begriff wurde auf der Fotoplattform Instagram bisher 8,9 Millionen Mal als Hashtag gesetzt. Die Avocado hingegen kommt auf 9,5 Millionen Einträge. Der leichte Vorsprung mag auch daran liegen, dass die Avocado in der Weltsprache Englisch denselben Namen hat und gleich geschrieben wird (das deutschsprachige #erdbeeren kommt auf 613.000 Beiträge auf Instagram); und daran, dass die Avocado im Gegensatz zur Erdbeere keine Saisonfrucht ist, sondern rund ums Jahr für ungefähr denselben Preis in westlichen Ländern erhältlich ist.

Die hohe Zahl von Avocado-Hashtags auf Instagram kommt aber offenkundig vor allem deshalb zustande, weil das Fruchtfleisch der Avocado so irre fotogen ist. Es sieht – gleichmäßig verteilt auf einer Scheibe Toast und fotografiert mit einer Smartphonekamera im milden Licht eines sonnigen Sommermorgens auf einem farblich abgestimmten Frühstücksteller neben einer Tasse Kaffee mit perfektem Milchschaum – auf Instagram einfach super aus. Frisch, zugleich Lebensfreude spendend und symbolisierend. Angeblich soll ihr Verzehr auch gesundheitsfördernd sein (hoher Anteil ungesättigter Fettsäuren, viel Kalium, viele Vitamine).

Instagram und die Avocado

Seit es Instagram gibt, seit 2010, hat sich die Weltproduktionsmenge der Avocado um rund 50 Prozent erhöht, auf zuletzt fast sechs Millionen Tonnen im Jahr 2017. Gäbe es den bedauerlichen Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität nicht, man könnte behaupten: Instagram allein hat die Avocado groß gemacht. Wahr ist tatsächlich erst einmal nur die Aussage, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Erfolg der Fotoplattform und dem der Frucht. Eine Ursachenbeziehung ließe sich nur schwer beweisen.

Immerhin lässt sich mit der Hypothese erst einmal arbeiten: Soziale Medien haben nicht nur eine immaterielle Wirkung darauf, wie wir die Welt wahrnehmen, etwa derzeit als politisch und kulturell polarisiert, wie man es auf Twitter und Facebook erleben kann – soziale Medien haben auch eine materielle Wirkung auf die Welt selbst.

In den Frachträumen von Flugzeugen zum Beispiel, die im Avocadoweltmarktführerland Mexiko starten und in Nordamerika landen, auch um die dort wohnhaften Foodies mit reifem gelbgrünem Brotaufstrich zu versorgen, liegen heute also sehr viel mehr Avocados als früher. Die Beliebtheit der Frucht hat durch den ressourcenraubenden Anbau (viel Wasser wird gebraucht) und den nötigen Transport (viel Kohlendioxid wird ausgestoßen) zunächst mal vor allem Auswirkungen auf die Umwelt, negative selbstverständlich. Isst man jeden Tag eine Avocado, dann beträgt laut dem Klimarechner der BBC die persönliche Avocado-Kohlendioxidausstoß-Jahresbilanz 72 Kilogramm. Zum Vergleich: Eine Jeans von Levi’s verbraucht nach Berechnungen der britischen Ökostromfirma Ecotricity über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg lediglich 33,4 Kilogramm Kohlendioxid.

So viele Bilder von Essen

Das wirklich Interessante, ja Bedenkliche an der Avocado ist aber weder ihr Nährwert noch ihr Geschmack und nicht einmal ihr carbon footprint – Lamm- oder Rindfleisch zum Beispiel haben einen deutlich verheerenderen. Es ist die Tatsache, dass sehr viele Leute Avocados fotografieren und diese Bilder mit anderen teilen. Der Vorgang des sozialmedialen Sharings erhöht die Kohlendioxidbilanz der Avocado noch durch den Betrieb unzähliger Smartphones, die Fotoweiterleitung und die Datenverarbeitung in Rechenzentren, klar. Zwar wird der Betrieb von Instagram selbst trotz mittlerweile über einer Milliarde Nutzern mutmaßlich keinen entscheidenden Beitrag zur Klimakatastrophe leisten. Die Plattform jedoch verändert nicht nur unseren Blick auf die Welt, sondern die Welt selbst auf andere Weise dramatischer.

Der Wissenschaftshistoriker John Tresch bezeichnete im vergangenen Jahr in einem hübsch betitelten Vortrag (“So Many Pictures of Food“) im Berliner Haus der Kulturen der Welt die Verbreitung von Nahrungsmittelbildern auf Instagram als “Metakonsum”: Menschen fotografieren mit ihren Smartphones vor ihnen stehende Gerichte, unmittelbar bevor sie diese verzehren, und lassen durchs Posten der Fotos ihre Freunde und durchs Verhashtaggen noch völlig Fremde an ihrem bevorstehenden Essvorgang teilhaben. Das ist sowohl aus Sicht der Bilderproduzenten wie Bilderkonsumenten ein schwer nachvollziehbarer bis total unsinniger Vorgang. 

Er hat jedoch wiederum Folgen für die reale Welt: Manche Köche richten Gerichte mittlerweile so an, dass sie möglichst instagrammable erscheinen; manche Restaurants verändern ihre Beleuchtung dergestalt, dass die möglichst optimale Lichtbedingungen für Foodfotografien ermöglicht, sagt Tresch.

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