/Kirchenaustritt: 31 Euro kostete der Austritt

Kirchenaustritt: 31 Euro kostete der Austritt

In der Osternacht war unsere Autorin ihrem Glauben immer am nächsten. Doch obwohl sie mit Gott aufgewachsen ist, haderte sie seit zehn Jahren mit ihm. Bis jetzt.

Ich hatte den Anruf lange vor mir
hergeschoben. Ich hatte von Freunden gehört, dass sie einen in ein Gespräch
verwickeln und zum Bleiben bewegen wollen. Immerhin waren ihnen in den letzten
Jahren schon so viele Leute weggelaufen. Zu diesem Gespräch war ich lange nicht
bereit gewesen. Ich hatte Angst gehabt, dort zu sitzen und jemandem ins Gesicht
sagen zu müssen, warum ich ging.

Es tutete.

“Da müssen sie sich ans Standesamt wenden”,
sagte die Pfarrsekretärin. Dann legte sie auf.

Vielleicht stumpfen sie ab, dachte ich.
Immerhin war ein weiterer Kirchenaustritt auch keine Überraschung mehr.

Früher habe ich jeden Abend gebetet, heute
bin ich Agnostikerin, die gerne Atheistin wäre. Zehn Jahre habe ich mit einem
Teil meiner Identität gerungen, den ich heute nicht mehr verstehen kann: dem
Glauben.

Am nächsten war ich meinem Glauben immer in
der Osternacht. Das Kirchenschiff lag in kompletter Dunkelheit. Um vier Uhr
morgens waren wir aufs Rad gestiegen, im Gepäck Körbe voller gefärbter Eier,
Schinken, Osterlämmer. Der Pfarrer kam mit der Osterkerze herein, die er am
Osterfeuer entzündet hatte, rief “Lumen Christi” und wir antworteten “Deo
Gratias
“: Danke, Gott. Anschließend reichte der Pfarrer die Kerze herum, damit
wir unsere Kerzen an seiner anzünden konnten. Wenn so Stück für Stück der ganze
Raum erleuchtete, nur durch unsere kleinen Kerzen, bekam ich Gänsehaut.

Ich ging damals fast jeden Sonntag mit
meiner Mutter oder Oma in der Kirche. Gottesdienst und danach beim Inder
Mittagessen, um auch über die Predigt zu reden – das war lange unser Ritual. In
der Kirche spielte ich Flöte, organisierte Gottesdienste mit, ließ mich firmen.

Vor dem Schlafengehen faltete ich die Hände
und sprach zu Gott. Erst so, wie es mir meine Oma beigebracht hatte, mit
Kindergebeten wie Müde bin ich, geh’ zur Ruh‘. Als ich älter war, schilderte ich
Gott meinen eigenen Hoffnungen und Gedanken.

Nachdem in meiner Heimatstadt ein
Jugendlicher in seiner ehemaligen Schule und Ausbildungsstätte mehrere Menschen
erschossen hatte und vor meiner Schule plötzlich schwer bewaffnete Polizisten
den Einlass kontrollierten, betete ich über ein halbes Jahr, dass so etwas
nicht wieder passieren würde. Nach dem elften September, ich war neun, betete
ich, dass Osama bin Laden gefasst wird.

Der Glauben half mir mit Ereignissen
umzugehen, die mich als Kind überforderten. Heute finde ich: Ich hätte auch
einfach mit meinem Kuscheltier darüber reden können. Zu hoffen, dass
irgendjemand alles richtet, kommt mir heute fremd vor.

Die Kirche kam mir vor wie die letzte Bastion des Patriarchats

Mein Glaube bröckelte das erste Mal, als der
Papst 2006 meine Heimatstadt besuchte. Wir bekamen schulfrei, weil unsere
Schule nahe am Dom lag und die Zufahrtsstraßen gesperrt wurden.

Wochenlang gab es kein anderes Thema in der
Stadt und in der Lokalzeitung. Den Aufwand, der für diesen Mann betrieben
wurde, empfand ich als übertrieben. Er hatte doch nur eine Wahl gewonnen. Bis
dahin war der Papst und die kirchliche Hierarchie für meinen Glauben egal. Als
andere begannen, sich so sehr auf diesen Besuch zu freuen und damit ihre
Unterwürfigkeit zu zelebrieren, konnte ich ihn nicht mehr ausblenden.

Ich stieß mich zum ersten Mal an der
starren Rangordnung der Kirche. Noch dazu war es eine Rangordnung, in der
Frauen und Mädchen wie ich so gut wie keine Rolle spielten.

Warum hatten wir keine Päpstin? Warum
durften Frauen nicht mal Priesterin werden und warum wären Ehefrauen eine zu
große Ablenkung für Geistliche von ihren Pflichten? Nichts davon ergab in dem,
wie ich erzogen wurde, Sinn. Ich hatte gelernt: Alle sind gleich, alle sollten
die gleichen Chancen haben. Bevor ich wusste, was Rassismus oder
Diskriminierung ist, hat mir die Kirche zum ersten Mal gezeigt: Es sind nicht
alle gleich.

Im Geschichtsunterricht lernte ich, wie
Frauen für ihr Wahlrecht hatten kämpfen müssen. In der Zeitung las ich von
Gehaltsunterschieden und einer gläsernen Decke. Mit der Zeit wirkte die Kirche
auf mich nur noch wie die letzte Bastion des Patriarchats.

Ich lernte für das Bibeldiplom, statt über meine Zweifel zu sprechen

Kurz darauf verabschiedete sich
ausgerechnet der Pfarrer, den ich in der Gemeinde am liebsten mochte. Er hatte
immer auf Riten wie das Beten des Ave Maria verzichtet und in seinen Predigten
zum Beispiel über Leistungsdruck gesprochen. Oder darüber, wie man mit den
ersten Enttäuschungen umgeht. Themen, mit denen ich als Kind und Jugendliche
etwas anfangen konnte. Manchmal spielte er etwas auf seiner Gitarre. Doch eines
Tages stand er vorne an der Kanzel und sagte, er werde gehen. Er hatte sich
verliebt.

Ich dachte darüber nach, evangelisch zu
werden. Nur den katholischen Traditionen eine Absage zu erteilen, aber nicht
dem Glauben. Doch an allen Religionen störte mich die Heftigkeit, mit der ihre
Mitglieder sie verteidigten.

Anstatt über Zweifel zu sprechen, lernte
ich im Religionsunterricht in der Schule für mein Bibeldiplom. Ich wusste
auswendig, in welcher Reihenfolge die Schriften und Evangelien im Alten und
Neuen Testament stehen und wovon welcher Apostel berichtet hatte. In anderen
Fächern sollte ich diskutieren lernen, aber Jesus infrage stellen, das ging
nicht. Ich begann, mir wie in einer Sekte vorzukommen, die keine Widersprüche
zulässt.

Aber während ich das kichernd meiner
Banknachbarin zuflüsterte, hatte ich schon ein schlechtes Gewissen. Was, wenn
es doch einen Gott gab, der gerade zuhörte und enttäuscht war, dass ich an ihm
zweifelte?

Trotz des schlechten Gewissens verschob ich
jedes Jahr die Grenze des Sagbaren weiter. Ich sagte zu Freunden: Ich glaube,
die Bibel ist einfach ein metaphorisches Buch – wie Tierfabeln. Etwas, wodurch
die Leute Moral lernen sollen, aber dessen Inhalt deswegen noch lange nicht
wahr sein muss.

Hits: 40