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Brauchtum: Himmlischer Schlummer

Weihnachten 1814 entschwebt Goethe Richtung Sonnenaufgang: Seit Wochen
schon wühlt er am heimischen Schreibtisch in den geistigen Schätzen des Morgenlandes. Im Band
Fundgruben des Orients
hat er eine geheimnisvolle Geschichte entdeckt, die ihn
nicht loslässt: die Legende von den Sieben Schläfern.
Sie tritt dem Dichter entgegen
als orientalische Erzählung, die auf den Koran zurückgeht – aber im Kern doch eine christliche
Heiligenlegende ist, eine Parabel von der Auferstehung. Kann das sein? Wirkt sie deswegen so
vertraut und so fremd zugleich?

Es geht um eine Gruppe mutiger Jungen, Diener am Hofe eines Fürsten im antiken Ephesus am Ägäischen Meer. Ihr Herr lässt sich als Gott anbeten – doch sie werden argwöhnisch, weil eine Fliege auf dem Essen den Herrscher fürchterlich irritiert und ihn aus seiner Divinität tief fallen lässt ins allzu Menschliche. Die Jungen erkennen, dass ihr Fürst nicht Gott sein kann. Goethe dichtet noch vor Neujahr 1815 die erste Version:

Nun! so sagen sich die Knaben,
Sollt’ ein Flieglein Gott verhindern?
Sollt’ ein Gott auch trinken, speisen,
Wie wir andern. Nein, der Eine
Der die Sonn’ erschuf, den Mond auch,
Und der Sterne Glut uns wölbte,
Dieser ist’s, wir fliehn!

Ein Schäfer hilft den jungen Männern, sich in einer Höhle in der Nähe zu verstecken, dort fallen sie in einen tiefen Schlaf. Draußen nimmt das Unheil seinen Lauf:

Und der Fürst dem sie entflohen,
Liebentrüstet, sinnt auf Strafen,
Weiset ab so Schwerdt als Feuer,
In die Höhle sie mit Ziegeln
Und mit Kalk sie läßt vermauern.

Nach sagenhaft langer Zeit, nach zweihundert, dreihundert Jahren, erwachen die Jungen aus ihrem Schlaf. Einer von ihnen geht zurück in die Stadt, die ihm nun seltsam unvertraut erscheint:

Ephesus, gar manches Jahr schon,
Ehrt die Lehre des Propheten
Jesus. (Friede sey dem Guten.)

Einige Wirrungen muss der Junge überstehen, bis ihm klar wird, was passiert ist – die Menschen der Stadt erkennen in dem Besucher aus der Höhle ihren Vorfahren und verstehen, dass sein langer Schlaf und sein Erwachen ein Zeichen Gottes, des Einzigen, sein muss. Der Junge kehrt zur Höhle zurück. Dieses Mal begleitet von Volk und König. Durch Vermittlung des Erzengels Gabriel entschlafen die Jungen nun “gemäß dem Willen Gottes” endgültig Richtung Paradies. “Und die Höhle schien vermauert”.

Im Kern der Legende steht die Auferstehung, das ewige Leben; eine Erneuerung der Frohen Botschaft. Das Christentum hat die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod jedoch keineswegs exklusiv und streng genommen auch nicht die Idee einer Auferstehung. Die Osterbotschaft ist vielmehr die christliche Chiffre einer Grundfrage aller Religion und Philosophie: Was bedeutet der Tod für das Leben?

Die Handlung der Legende ruft eine ganze Reihe von Motiven der Passion Jesu aus den Evangelien und der Osterbotschaft auf – das erleichterte ihre schnelle Verbreitung in der Entstehungszeit im 5. Jahrhundert: Auch Jesus verteidigt seinen Glauben gegen eine feindlich gesinnte Welt; er wird nach der Kreuzigung in einer Höhle beigesetzt, die er wieder verlässt – und ebenso kommt er als vertrauter Fremder zurück unter die Menschen, die ihn erst nicht, aber bald doch erkennen. Schließlich steigt auch Jesus, nachdem seine Botschaft unter die Menschen gebracht ist, auf ins Reich Gottes.

Lange galten die Sieben Schläfer in der katholischen Kirche als Heilige. Heute aber ist die Erinnerung an sie, schreibt der Orientalist Hermann Kandler in seiner Studie zur Legende, “im abendländischen Christentum fast verloren gegangen”. In Deutschland gibt es gerade noch zwei Kapellen, die ihnen geweiht sind; in Frankreich eine einzige. Ihren Namen haben die alten Heiligen zumindest im Raum der germanischen Sprachen an eine kleine graue Maus verloren, die mehr als die Hälfte des Jahres nicht zu sehen ist, weil sie – immerhin das – sehr lange schläft. Zwar gilt der 27. Juni noch weithin als “Siebenschläfertag”, aber er wird nicht mit der Legende, sondern mit Bauernregeln oder Wetterprognosen in Verbindung gebracht. Sicher ist, dass es heute in Deutschland deutlich mehr Muslime gibt, die etwas von den Sieben Schläfern wissen, als Christen.

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