/Wohngemeinschaften: “Fast niemand zieht mehr aus Überzeugung in eine WG”

Wohngemeinschaften: “Fast niemand zieht mehr aus Überzeugung in eine WG”

Die WG sollte alle Menschen gleich und frei machen. Ein Soziologe erklärt, warum dieses Projekt der 68er gescheitert ist. Und warum sie von heutigen WGs schockiert wären.

Jeder dritte Studierende lebt in einer Wohngemeinschaft. Auch für Berufstätige ist die WG oft die einzig bezahlbare Option. Was als alternatives Lebensmodell begann, ist zur pragmatischen Lösung geworden, erklärt der Soziologe Clemens Albrecht.

ZEIT Campus ONLINE: Immer mehr Menschen leben in Wohngemeinschaften. Seit wann liegt die WG im Trend?

Clemens Albrecht: Menschen, die nicht miteinander verwandt sind, aber einen Haushalt teilen, gab es schon im Römischen Reich. Das ganze europäische Mittelalter war geprägt von Lebensformen, in denen Familien, ihr Dienstpersonal und andere Personen sich ein Haus teilten. Eigentlich ist die Wohngemeinschaft die normale Lebensform.

ZEIT Campus ONLINE: Seit wann leben Familien nicht mehr in Wohngemeinschaften?

Albrecht: Zumindest bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war das die Regel. Danach lebte die Kernfamilie verstärkt im eigenen Heim, allerdings in der Oberschicht immer noch mit Personal. Als die Dienstboten dann in den 1950er- und 1960er-Jahren durch Maschinen ersetzt wurden, wurde die Kernfamilie mit eigenem Haushalt zum Standard. Die Männer gingen arbeiten, die Frauen blieben zu Hause und kümmerten sich um die Kinder.

ZEIT Campus ONLINE: Wie hat das Modell der Wohngemeinschaft trotzdem überlebt?

Albrecht: Wie so viele gesellschaftliche Strukturen wurde auch diese von der 68er-Bewegung aufgebrochen. Ihre Wohngemeinschaftsprojekte läuteten das Comeback der alten Wohnform ein. Das damals Neue an der Wohngemeinschaft war, dass sie egalitär organisiert wurde. Es gab keine patriarchalen Strukturen innerhalb von Wohngemeinschaften. Das ist bis heute so geblieben, wenn man mal davon absieht, dass es Haupt- und Untermieter gibt. Die Wohngemeinschaft der 68er war immer ein gesellschaftsreformerisches Projekt. Doch die Hoffnung, dass irgendwann alle Menschen frei und gleich zusammen leben würden, erwies sich als große Illusion.

ZEIT Campus ONLINE: Wieso ist die Idee gescheitert?

Albrecht: Heute entscheiden sich Studierende pragmatisch statt politisch für eine Wohngemeinschaft. Ist das Studium beendet und die Familie gegründet, verlässt man die WG und zieht ins Reihenhaus. Einige Jahre später wird der Nachwuchs denselben Kreislauf durchlaufen. Die WG ist zu einer Lebensform auf Zeit geworden – vor allem für gut gebildete 20- bis 30-Jährige. Fast niemand zieht mehr aus Überzeugung in eine Wohngemeinschaft.

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