/Recep Tayyip Erdoğan: Die Wahlschlappe des Sultans

Recep Tayyip Erdoğan: Die Wahlschlappe des Sultans

Lesen Sie hier das türkische Original. Der Text ist für die deutsche Version redaktionell leicht bearbeitet worden.

Lässt sich ein gewähltes Repressionsregime auch wieder abwählen? Sie
erinnern sich, als Tayyip Erdoğan auf demokratischen Wegen an die Macht kam, war das ein
Vorbild für Nahost und die islamische Welt. Man hatte in islamischen Ländern erlebt, dass
Putsche säkularer Armeen islamische Bewegungen keineswegs verhindert hatten, sondern vielmehr
gestärkt und radikalisiert. Liberale Denker traten dafür ein, den Kampf auf das demokratische
Feld zu verlagern. Statt in den Untergrund gedrängt zu werden, sollte der sich zunehmend
politisierende Islam ins System hineingeholt werden, durch Beteiligung an der Regierung und
“am Kuchen” sollte er sich mäßigen, ja, demokratisieren. Möglich wäre ja auch, dass seine
Fehler in Regierungsverantwortung die Legende vom “islamischen Modell” entzaubern würden.

Dieses in Amerika “gemäßigter Islam” genannte Szenario wurde in der Türkei ausprobiert. Das Militär, das mehrfach islamistische Parteien unterbunden hatte, zog sich zurück; nach einer Wirtschaftskrise kam Erdoğan mit freiheitlichen Versprechen und gewaltiger Stimmenmehrheit ans Ruder. Mit dem Kredit der westlichen Welt und der Liberalen im Land erlebte er in den ersten Jahren einen Aufschwung. Nach außen hin gab er sich den Anschein eines “Europa gegenüber aufgeschlossenen Muslim-Demokraten”.

Bei jeder Wahl erstarkte er, mit der Zeit aber vergiftete ihn seine Macht. Er glaubte, Europa und die ihn unterstützenden Liberalen nicht mehr zu benötigen, zog in seinen neuen Palast, gerierte sich als Sultan. Dann erschütterte er die Grundpfeiler der Demokratie, die ihn zur Macht getragen hatte: Menschenrechte, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Justiz, Laizismus, Presse-, Meinungs- und Organisationsfreiheit.

Staatliche Ressourcen und Möglichkeiten schob er sich, seiner Familie und loyalen Unternehmern zu, erklärte Kritiker zu Feinden und inhaftierte sie, so wurde er zum Despoten. Die erste Regierungserfahrung des politischen Islams ging als finstere Epoche in die Geschichte ein, die jene bestätigte, die gewarnt hatten, Religion und Politik gingen unmöglich zusammen.

Nun stellt sich uns eine weit schwierigere Frage: Ist ein Regime, das versucht, die Demokratie, die es an die Macht gebracht hat, abzuschaffen, auf demokratischen Wegen besiegbar? Geht es, wenn der Wähler Geh! sagt, in die Opposition? Was, wenn eine Regierung, die Militär, Polizei, Justiz, Medien, Kapital und Verwaltung vollständig unter Kontrolle gebracht hat, Wahlergebnisse nicht anerkennt? Wie verteidigt ein Volk ohne längere demokratische Tradition, entwickelte Zivilgesellschaft und etablierte normative Schutzräume seinen Willen, wenn auch der Schutz durch das Militär weggefallen ist?

Auf diese Frage sucht die Türkei derzeit Antwort. Denn Erdoğan, der bei den Wahlen eine ernsthafte Schlappe erlitt, widersetzt sich der Entscheidung des Volkes. Er will wählen lassen, bis er triumphiert. Die Macht dazu hat er, denn er kontrolliert Justiz und Straße. Allerdings ist er wohl erstmalig mit einer widerständigen, ermutigten Opposition konfrontiert. Er steht an einer Weggabelung: Trotzt er dem Wählerwillen, führt das die Türkei in ein totalitäres Regime und in die Einsamkeit. Erkennt er das Ergebnis an, gilt er als besiegbar und vergrößert die Wahrscheinlichkeit vorgezogener Neuwahlen. Gelingt der Türkei der Weg aus der Finsternis auf demokratischem Wege, kann das ein Licht für sie selbst und die gesamte Region bringen.


Aus dem Türkischen von
Sabine Adatepe

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