/Jude Kirton-Darling: “Ich will mein Land vor sich selbst beschützen”

Jude Kirton-Darling: “Ich will mein Land vor sich selbst beschützen”

Im Herbst 2016, wenige Wochen nach der Brexit-Entscheidung, sprach ZEIT ONLINE in Straßburg mit zwei britischen Europaparlamentarierinnen darüber, was die Entscheidung nun für ihre Arbeit und ihr Land bedeutet. Fast drei Jahre später ist der EU-Austritt immer noch nicht vollzogen. Möglicherweise wird Großbritannien sogar an den Europawahlen Ende Mai teilnehmen. Grund genug, nochmals bei der Labour-Politikerin Jude Kirton-Darling anzurufen. Die 41-Jährige ist seit 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments, hat sich dort um Handels- und Sozialpolitik gekümmert. Sie vertritt den eher strukturschwachen Wahlbezirk Nordostengland (North East), in dem 2016 besonders viele Menschen für einen Austritt aus der EU stimmten.

ZEIT ONLINE: Frau Kirton-Darling, sehen Sie
Ihre Zukunft weiterhin in Brüssel?

Jude Kirton-Darling: Ja. Ich werde bei den
Europawahlen kandidieren und die Liste für Nordostengland anführen. Ich will für die EU kämpfen und mein
Land vor sich selbst beschützen. Es ist unglaublich, in was für einen Schlamassel uns der Brexit gebracht hat. Ich habe lange überlegt, ob ich nochmal antrete, weil ich einen kleinen Sohn habe und das vergangene Jahr sehr anstrengend war. Aber wer weiß, was noch
passiert. Ich sage immer: Die Ungewissheit ist meine neue Gewissheit.

ZEIT ONLINE: Sind Sie denn überhaupt sicher, dass
Großbritannien an den EU-Wahlen teilnimmt? Theresa May sagt, sie will bis Ende
Mai eine Mehrheit für ihr Austrittsabkommen finden.

Kirton-Darling: Immerhin auf eines konnten sich die britischen
Abgeordneten in Westminister einigen: ihre zweiwöchigen Osterferien. Daher
gehe ich davon aus, dass wir an der Wahl teilnehmen. Schlicht, weil kaum noch Zeit bleiben wird, eine Einigung über ein Austrittsabkommen vor dem 22. Mai zu erzielen.

ZEIT ONLINE: Die nächste Brexit-Deadline wäre dann der 31.
Oktober. Warum kandidieren Sie für ein Amt, dass sie in wenigen Monaten sowieso
aufgeben müssen?

Jude Kirton-Darling

Jude Kirton-Darling
© Jude Kirton-Darling

Kirton-Darling: Im Europaparlament habe ich mich um
Menschenrechte und Handelspolitik gekümmert. Da gibt es noch viel Arbeit, einige Projekte stehen kurz vor dem Durchbruch. Ich glaube auch, dass durch die Europawahlen eine ganz neue Dynamik in Großbritannien entstehen könnte. Die
Wahrscheinlichkeit nimmt zu, dass wir die EU gar nicht verlassen. Es wird wahrscheinlich zu Neuwahlen kommen und vielleicht gibt es auch ein zweites
Brexit-Referendum. Deshalb ist der Wahlkampf wichtig. Ich will zeigen: Hey, wir
britischen Proeuropäer sind auch noch da.

ZEIT ONLINE: Schaffen Sie es überhaupt, Menschen für den
Wahlkampf zu mobilisieren?

Kirton-Darling: Oh ja. Bei der Suche nach Kandidaten hatten
wir keine Probleme – im Gegenteil, wir wurden eher überrannt. Wir haben landesweit 73 Kandidaten und Kandidatinnen gesucht. Die Zahl der Bewerbungen war ein logistischer
Albtraum. Aber ich mache mir natürlich nichts vor: Der Straßenwahlkampf wird nicht einfach. Schon bei den letzten beiden Europawahlen hat in meiner Region gerade
einmal jeder Vierte bis jeder Dritte gewählt.

ZEIT ONLINE: Der Nordosten Englands war 2016 mehrheitlich für den EU-Austritt. Wie ist die Stimmung heute?

Kirton-Darling: Sehr unterschiedlich. Ich kenne Brexiteers, die sagen, sie werden
bei den Europawahlen nicht wählen gehen. Andere sehen die EU-Wahl als neue
Volksabstimmung über den Brexit. Und ich kenne auch Leute, die eigentlich für den Verbleib in der EU sind und trotzdem
sagen: Die Mehrheit war anderer Meinung als ich, also macht halt endlich! Die allermeisten sind einfach nur noch Brexit-müde und wollen endlich mal über etwas anderes reden.

ZEIT ONLINE: Ihre
Partei, Labour, hat selbst keinen klaren Kurs beim Thema Brexit. Eine
Bürde im Wahlkampf?

Kirton-Darling: Die Spaltung ist gar nicht so groß, wie alle
immer behaupten. 80 Prozent der Labour-Wählerinnen und Mitglieder sind für einen
Verbleib in der EU. Wir sind also eine Remain-Partei, egal was manche
unserer Spitzenpolitiker sagen. Ob es ein zweites Referendum geben soll, ist aber in der Tat umstritten: Es gibt politische Mitstreiterinnen, die sagen: Wir
sind eine parlamentarische Demokratie, da hat das direktdemokratische Element
eines Volksentscheids nicht zu suchen, die Abgeordneten sollen entscheiden. Und
dann gibt es Menschen wie mich, die sagen: Das Referendum war toxisch, aber das
Chaos kann nur durch ein weiteres Referendum beendet werden.

ZEIT ONLINE: Auf Twitter diskutieren Sie derzeit regelmäßig
mit Menschen, die sagen: Warum soll ich Labour wählen, dann weiß ich ja gar
nicht, was ich bekomme.

Kirton-Darling: Ja, manche der eifrigsten Diskutanten sind
natürlich Mitbewerber von anderen Parteien, wie den Liberalen oder der neuen Remain-Bewegung Change UK, die sagen: “Wählt nicht Labour, denn sie vertreten eure Interessen nicht konsequent genug.”

ZEIT ONLINE: Haben Ihre Kritiker nicht recht? Labour-Chef Jeremy Corbyn fährt einen ziemlichen Schlingerkurs.

Kirton-Darling: Ich denke, Corbyn steht dem Brexit ambivalent gegenüber und er ist genervt, dass er das Thema nicht los wird. Er würde gerne über Armut und Menschenrechte sprechen
und darüber, wie wir unsere öffentlichen Einrichtungen stärken können. Aber ich sage den Corbyn-Kritikerinnen immer: Ihr wählt nicht ihn, sondern unsere Europa-Kandidaten, und die sind alle remainers.

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