/Interkulturelle Freundschaft: Essen ist des Volkes Himmelreich

Interkulturelle Freundschaft: Essen ist des Volkes Himmelreich

Franka Lu ist eine chinesische Journalistin und Unternehmerin. Sie
arbeitet in China und Deutschland. In dieser ZEIT-ONLINE-Serie
berichtet sie kritisch über Leben, Kultur und Alltag in China. Um ihr
berufliches und privates Umfeld zu schützen, schreibt sie unter
einem Pseudonym.

In den
Neunzigerjahren, habe ich gehört, erhielten männliche deutsche Diplomaten vor der
Entsendung nach China Unterricht in den dort herrschenden Umgangsformen. Weit oben auf
der Liste stand angeblich der Rat: Sollten die Diplomaten Chinesinnen und Chinesen zu sich nach Hause
zum Essen einladen und deren Ehefrauen aufwendig für die Gäste kochen, so sollten sich die Deutschen vor
dem Essen für die “miserablen Kochkünste” ihrer Gattinnen entschuldigen – um zu demonstrieren, dass sie gelernt haben, sich in typisch chinesischer Bescheidenheit zu
üben.

Dieser Ratschlag ist
inzwischen wahrscheinlich gestrichen worden. Nicht nur weil er den Beziehungen der derart beratenen Deutschen geschadet haben muss, sondern auch weil die Erwartungshaltung von Chinesen an ausländische Gastgeber inzwischen eine andere ist.

Interkulturelles Training ist ein schwieriges Feld,
besonders in einer globalisierten Welt, in der Kapitalismus und
Informationstechnologie Mentalität, Lebensstil, Beziehungen und Verhalten der
Menschen rasend schnell und unerwartet verändern. Nun kann ich nicht mit einer Broschüre dienen für
Geschäftsleute oder Diplomaten, die in China neu sind, und auch nicht mit Ratschlägen, wie einsame Ausländer in China Kontakte zu Einheimischen anbahnen sollten. Ich kann aber ein paar Tipps geben und Anekdoten erzählen für all jene, denen China und der
Umgang mit Chinesinnen und Chinesen noch ungewohnt ist – bis auch der Nutzwert dieser Ratschläge verfallen ist.

Essen ist mehr als bloßes Vergnügen

Der vielleicht
beste Rat für alle, die sich mit Chinesinnen und Chinesen anfreunden möchten:
Interessieren Sie sich mit Neugier und Leidenschaft für chinesisches Essen.
“Essen ist des Volkes Himmelreich”, so wurde der Satz “min yi shi wei tian”
aus der Han-Dynastie übersetzt, aus der Zeit von ungefähr 90 vor Christus. Die
Betonung liegt nicht unbedingt auf himmlischen Freuden, mehr auf heiligem
Ernst. Die Chinesen genießen und lieben das Essen nicht nur, sie beten gutes
Essen an.

Diese Haltung ist
in ganz Asien verbreitet. Die hoch entwickelte Esskultur Japans zum Beispiel ist
auf der ganzen Welt berühmt. Junge Japaner posten Bilder ihres Essens sogar auf
Tinder und stellen eine direkte Verbindung zwischen gastronomischen Vorlieben und sexueller
Kompatibilität her. In China wiederum nehmen die in die Küche
investierte Zeit, Kraft, intellektuelle Auseinandersetzung und
Gefühlsintensität gigantische Ausmaße an. Jede Stadt, jeder kleinere Ort, jeder
Landkreis hat seine eigenen unverwechselbaren Gerichte, die den Einwohnern eine
Quelle des Stolzes und ein Teil ihrer Identität sind. Die eine Provinz ist für mehr als tausend Zubereitungsarten von Nudeln berühmt, die andere
für Fisch oder Pilze. Erst ein Festessen macht gesellschaftliche Zusammenkünfte
komplett; eine Party ohne Essen ist keine Party. In den sozialen Medien mit
gutem Essen anzugeben oder nach ihm zu suchen, gehört heute zu den festen Ritualen
des täglichen Lebens. Essen konnte aber schon immer alltägliche Kleinkriege befrieden und macht aus Feinden Freunde auf Zeit: Ich kann mich gut erinnern, wie mein Großvater
mütterlicherseits und mein Vater, die einander jahrzehntelang verabscheuten, erst durch
leidenschaftliche Gespräche über das Kochen zueinanderfinden konnten.

Fragen Sie nach,
wenn man Ihnen in China ein Ihnen unbekanntes Gericht vorsetzt: Erkunden Sie sich, was es ist und was das Besondere
daran ist. Sollten Sie etwas Exotisches vor sich haben, das Sie auf den ersten Blick womöglich abstoßend finden –
Schildkrötenpanzersuppe aus Hubei zum Beispiel oder ein Dessert aus dem
getrockneten Fettgewebe von Fröschen –, könnte es sich um eine große
Respektsbekundung der Gastgeber Ihnen gegenüber handeln. Vergessen Sie nicht, dass die alten
Römer ausländischen Würdenträgern Straußenhirn, Delphin-Hackklößchen, Reiher, Ziegenfüße,
Pfauenhirn, gekochte Papageien, Flamingozungen und Pirole auftischten. Statt
also die Nase zu rümpfen und die Schüsseln beiseitezuschieben, sollten Sie
den Gastgebern für ihre Großzügigkeit danken, sich notfalls entschuldigen und
ihre Begeisterung für andere Gerichte zum Ausdruck bringen, um sie nicht zu
verletzen. Auf der Offenheit für die chinesische Küche, die mit viel Stolz und
Emotion aufgeladen ist, lassen sich rasch Freundschaften gründen.

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