/Suchterkrankungen: “Eine Alkoholsucht ist keine moralische Verfehlung”

Suchterkrankungen: “Eine Alkoholsucht ist keine moralische Verfehlung”

Viele Leserinnen interessierten sich für den
Artikel über Vlada, die jahrelang heimlich im Büro Alkohol trank. Wie vielen Beschäftigten
es in Deutschland so geht und was Arbeitgeber tun können, wenn sie merken, dass
Mitarbeitende trinken, erklärt Peter Raiser von der Deutschen Hauptstelle für
Suchtfragen. 

ZEIT ONLINE: Herr Raiser, die Protagonistin in unserem Artikel war jahrelang alkoholabhängig und auch während der Arbeitszeit betrunken. Ist sie ein Ausnahmefall?


Raiser: Nein. Es gibt in Deutschland viele Studien zum Alkoholkonsum am Arbeitsplatz, deshalb wissen wir, dass etwa fünf Prozent der Arbeitnehmer ein ernsthaftes Alkoholproblem haben. Weitere zehn Prozent konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Weise. Das bedeutet, dass bei ihnen keine Suchterkrankung vorliegt, sie aber so viel trinken, dass sie mit langfristigen gesundheitlichen Folgen rechnen müssen.

Suchterkrankungen: Peter Raiser arbeitet als Referent und stellvertretender Geschäftsführer bei der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. Er hat Sozial- und Politikwissenschaften in Göttingen und Madrid studiert.

Peter Raiser arbeitet als Referent und stellvertretender Geschäftsführer bei der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. Er hat Sozial- und Politikwissenschaften in Göttingen und Madrid studiert.
© privat

ZEIT ONLINE: Bei Führungskräften liegt der Anteil der Alkoholabhängigen sogar bei bis zu zehn Prozent. Sind bestimmte Berufsgruppen eher von einem Suchtverhalten betroffen als andere?

Raiser: Es gibt Studien, die zu dem Schluss kommen, dass Mitarbeiter des Gastronomie-, des Dienstleistungs- und des Seefahrtsgewerbes öfter alkoholbedingte Schäden am Arbeitsplatz erleiden. Allerdings wurden diese Studien in England und Australien durchgeführt. Die Ergebnisse lassen sich nicht einfach so auf Deutschland übertragen, weil die Bestimmungen zur Arbeitssicherheit und die Arbeitskultur bei uns anders sind. Entscheidender als die Berufsgruppe ist für die Entwicklung einer Alkoholsucht ohnehin die individuelle Arbeitssituation eines Angestellten.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Raiser: Das Risiko einer Alkoholsucht steigt, wenn ein starkes Missverhältnis zwischen der Arbeitsverausgabung und der Arbeitsbelohnung besteht. Wenn ein Arbeitnehmer also einerseits viel Einsatz bringt, andererseits aber keine Wertschätzung oder keine angemessene Entlohnung erhält. Ein solches Missverhältnis führt zu Stress. Wenn Mitarbeiter meinen, diesen abbauen zu können, indem sie abends ein Bier oder einen Wein trinken, können sie schnell ein risikoreiches Konsumverhalten entwickeln. Der vermeintliche Stressabbau mit Alkohol ist ein häufiger Grund für die Entwicklung einer Suchterkrankung. Und Alkohol ist das häufigste Suchtmittel, weil es so leicht verfügbar ist. Man kann einfach in den Supermarkt gehen und sich eine Flasche kaufen, ohne weitere Energie in die Beschaffung des Suchtmittels investieren.

“Wie der Umgang mit Alkohol gehandhabt wird, ist Sache der Unternehmen.”

Peter Raiser

ZEIT ONLINE: Stressabbau scheint für viele Arbeitnehmer ein wichtiges Thema zu sein. Zurzeit werden Entspannungsprodukte wie zum Beispiel Cannabidiol-Öle stark nachgefragt. Fordern heutige Arbeitsbedingungen Suchtmittel, um besser abschalten zu können?

Raiser: Mit Sicherheit ist es so, dass sich Arbeit verdichtet hat und heute komplexer ist als noch vor ein paar Jahren. Dadurch führt sie häufiger zu Stress. Die Zahl alkoholabhängiger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat sich aber nicht verändert. Sie ist im europäischen Vergleich seit Langem auf einem sehr hohen Niveau. Das liegt hauptsächlich daran, dass Alkohol in Deutschland sehr leicht verfügbar und sehr günstig ist.

ZEIT ONLINE: Ab wann wird Trinken im Büro zum Problem?

Raiser: Wenn man während der Arbeit betrunken ist, dann ist das immer ein Problem – auch wenn keine Suchterkrankung vorliegt. Zum einen führt Alkohol zu einem erheblichen Unfallrisiko. Studien zufolge stehen etwa ein Viertel aller Arbeits- und Wegeunfälle im Zusammenhang mit Alkohol. Darunter fallen Stürze, Verkehrsunfälle auf dem Weg zur Arbeit oder das Fehlbedienen einer Maschine. Zum anderen verringert Alkohol bekanntlich das Urteils- und Konzentrationsvermögen und verzerrt die Wahrnehmung. Neben der Tatsache, dass es einfach nicht wünschenswert ist, wenn zum Beispiel ein Richter oder Chirurg bei Entscheidungen derart beeinträchtigt ist, ist Alkohol ist also auch ein Problem bei der Erfüllung der Arbeitsleistung. Der übermäßige Alkoholkonsum nach der Arbeitszeit kann auch problematisch sein, weil er Folgen für die Gesundheit hat. Alkohol steht zum Beispiel im Zusammenhang mit Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen. Auf die Freizeit eines Mitarbeiters kann der Arbeitgeber aber natürlich keinen Einfluss nehmen.

ZEIT ONLINE: Gibt es in Deutschland überhaupt ein Alkoholverbot am Arbeitsplatz?

Raiser: Natürlich haben Vorgesetzte eine Fürsorgepflicht und sollten Arbeitnehmer, die betrunken oder verkatert am Arbeitsplatz erscheinen, in jedem Fall nach Hause schicken. Ein gesetzliches Alkoholverbot gibt es aber nicht. Wie der Umgang mit Alkohol gehandhabt wird, ist Sache der Unternehmen. Wir raten unbedingt dazu, das Konzept der Punktnüchternheit, also das Verzichten auf Alkohol am Arbeitsplatz, in einer Betriebsvereinbarung festzuhalten.

“Gerade weil Alkohol so naheliegend, so greifbar und akzeptiert ist, wird es schnell zum Suchtmittel.”

ZEIT ONLINE: Sie sagen also, dass Unternehmen Verantwortung übernehmen sollten. Oft gehört Alkohol allerdings fest zur Unternehmenskultur dazu. Auf Beförderungen wird mit Sekt angestoßen oder beim Team-Building-Event Bier ausgeschenkt. Wird der Umgang mit Alkohol verharmlost?

Raiser: Auf jeden Fall. Gerade weil Alkohol so naheliegend, so greifbar und akzeptiert ist, wird es schnell zum Suchtmittel. Wir empfehlen betriebliche Veranstaltungen und den Konsum von Alkohol strikt voneinander zu trennen. Arbeitgeber könnten solche betrieblichen Veranstaltungen auch nutzen, um für das Thema zu sensibleren: Sie könnten auf die Gesundheitsrisiken von Alkohol hinweisen und diskutieren, wie viel eigentlich zu viel ist.

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