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Kinesio-Tape: Kleb mir eins!

Man nennt ihn Abwehrchef – oder auch Verteidigungsminister. Denn Finn Lemke spielt in der Handballnationalmannschaft in der Abwehr. Eine Position, die mit viel und
hartem Körperkontakt verbunden ist. Lemkes Physiotherapeut Sascha Seifert hat für alle Fälle
den Koffer voller bunter Klebebänder, sogenannter Kinesio-Tapes. “Ich habe schon einige
Verletzungen auf dem Buckel”, erzählt Lemke der
ZEIT,
“und die Tapes haben jedes Mal
gutgetan.”

Um diese elastischen Klebebänder gibt es seit Jahren einen Hype. Sie sollen Schmerzen lindern, abschwellend wirken, Verspannungen lockern, Gelenke unterstützen und gar kraftsteigernd wirken. Über Krankengymnastikpraxen landete die Klebetechnik allmählich beim heimischen Anwender. Und seit die Bänder sogar in Supermärkten und bei Discountern erhältlich sind, boomt das Selbst- oder Partnertaping. Was aber ist dran an den bisweilen kunstvoll auf die Haut montierten Gewebebändern?

Erfunden wurde das Kinesio-Tape 1973 von dem Japaner Kenzo Kase, der nach einem PR-Job einer der ersten Chiropraktiker Japans wurde. Kases Tape ist fast so elastisch wie die Haut und schränkt die Bewegung nicht ein. Auf dem Baumwollgewebe ist Acrylkleber aufgetragen, mit dem sich die etwa fünf Zentimeter breiten Streifen anbringen lassen. Angeblich hebt der von ihnen ausgeübte Zug die Haut und fördert wie eine leichte Dauermassage auf diese Weise die Durchblutung. Dann, heißt es, könnten Entzündungsstoffe und Lymphflüssigkeit abfließen, und das Gewebe schwelle ab. Gleichzeitig sollen die Bänder Rezeptoren in der Haut aktivieren und so Schmerzreize blockieren. Das ist so weit physiologisch plausibel. Nach fünf bis sieben Tagen werden die Bänder wieder abgezogen – mit Speiseöl flutscht es angeblich besser. “Es gibt mir ein besseres Gefühl, und deshalb werde ich es weiter benutzen”, sagt Finn Lemke. Was aber sagen die Experten?

Martin Engelhardt, Chefarzt am Klinikum Osnabrück, ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin, Autor zahlreicher Fachbücher und war Leitender Orthopäde der deutschen Olympiamannschaft. Ja, es gebe viele Hochleistungssportler, die an das Kinesio-Tape glaubten, sagt Engelhardt. “Aber mit Messungen”, betont er, “lässt sich die Wirkung nicht objektivieren.”

Sein Kollege Tobias Renkawitz von der Orthopädischen Universitätsklinik Regensburg leitet die Arbeitsgemeinschaft evidenzbasierte Medizin innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie. Für die
ZEIT
hat er aktuelle Studien zur Wirksamkeit des Kinesio-Tapings analysiert. Sein Fazit: Es gibt erstaunlich wenig methodisch gute Arbeiten mit einem klaren Fokus auf den Patientennutzen. “Wissenschaftlich ist da noch viel Luft nach oben.” Die wenigen qualitativ hochwertigen, vergleichenden Untersuchungen hätten einen gemeinsamen Tenor: “Eine eindeutige Wirksamkeit von Kinesio-Tape als Einzelmaßnahme bei der Behandlung von Gelenk- und Muskelverletzungen lässt sich nicht nachweisen”, sagt Renkawitz. Stimmten sich aber Ärzte und Physiotherapeuten ab, könnten die Tapes ein Baustein für eine schnelle Rückkehr in den Sport sein.

Und was sagt Finn Lemkes Physiotherapeut und Osteopath? Sascha Seifert hat beim Erfinder Kenzo Kase gelernt und ist Vorsitzender der International Taping Association. Er weiß um die Schwächen der Statistik und lenkt gleich ein: “Wenn man in einer medizinischen Datenbank recherchiert, findet man über 300 Studien zum Thema Kinesio-Taping, und von denen sind im Endeffekt vielleicht 15 bis 20 wirklich von einer hohen Qualität.” Weil der wissenschaftliche Beweis für die Wirksamkeit der Tapes nicht erbracht ist, zahlen die Krankenkassen in der Regel nicht, sondern der Patient. Das Kinesio-Tape kostet zwischen 10 und 30 Euro, und wenn die Zeit für eine Untersuchung eingerechnet wird, kommt noch ein Euro pro Minute drauf. Die Untersuchung dauert rund 20 Minuten.

Die schwache Datenlage weist auf ein Grundproblem der Orthopädie und Physiotherapie. Viele Therapien auf diesen Gebieten stehen nicht auf statistisch gut abgesicherten Fundamenten. Das ist so, weil der Einfluss des individuellen Therapeuten schwer fassbar ist, jeder Fall anders liegt und die Industrie nur geringes Interesse an großen, teuren Studien hat. Untersuchungen mit wenigen Probanden hingegen lassen keine klare Aussage darüber zu, ob eine Therapie besser wirkt als eine Scheinbehandlung. “Letztlich sind nur noch 20 Prozent unserer Tätigkeiten überhaupt evidenzbasiert”, sagt Sascha Seifert. Ginge es danach, dürfte man den Kranken eigentlich nur noch Schmerzmodelle erklären und sie mit ein paar Übungen nach Hause schicken. “Und dann geht der Patient unzufrieden aus der Behandlung”, sagt Seifert.

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