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Geschlechterrollen: Die Jungen von heute

Jugendliche sind immer online, körperlich frühreif und neuerdings
politisch aktiv? Wir fragen, was es für junge Menschen bedeutet, sich
heutzutage einen Platz in der Welt zu suchen, und blicken in einem Schwerpunkt auf die wahrscheinlich emotionalste Zeit des Lebens: die Pubertät.

Es hat wieder nicht geklappt. Otis x-ter Versuch, sich selbst zu
befriedigen, endet wie immer in einem rotzig drapierten Arrangement
aus Taschentuch, Gleitgel und verdächtig knitterfreiem
Pornoheftchen. Niemand soll ahnen, dass ausgerechnet ihm, Sohn einer
Sexualtherapeutin, nackte Körper den Angstschweiß auf die Stirn treiben.

Anders
als die erste Szene von Sex
Education

suggeriert, geht es in
der britischen Netflix-Serie gar
nicht darum, demonstrativ seinen Mann zu stehen – im Gegenteil. Erzählt wird von einer Gruppe Teenager, die sich nach und nach
frei machen vom Erwartungsdruck einer heteronormativen Gesellschaft:
Eric (Ncuti Gatwa) von der Rolle des kosmetikaffinen Quotenschwulen, Adam (Connor Swindells) von seinem Unterhaltungszwang als Rektorensohn,
Otis (Asa Butterfield) von der Bevormundung durch ein dauergeiles
Umfeld.

Die Figuren aus Sex Education stehen
beispielhaft für eine neue Generation männlicher Serienhelden, die
sich aus ihrer Testosteron-Zwangsjacke schälen. Auch die
Protagonisten aus den
Publikumslieblingen The End of the F***ing World, Tote Mädchen lügen nicht oder der deutschen Webserie
Druck
zeigen, dass der werdende Mann auch schmächtig, pickelig und völlig desillusioniert eine Erzählung wert ist. Es war ein langer Weg bis dorthin.

Generationenübergreifend
hatten männliche
Mainstream-Serienstars
vor allem eine Mission: Fans vor den Bildschirmen den Kopf zu
verdrehen. Dylan McKay (Luke Perry) aus Beverly
Hills, 90210
, Daniel
Desario (James Franco) aus Freaks and
Geeks,
Chuck Bass (Ed Westwick) aus Gossip
Girl
,
Ryan Atwood (Benjamin McKenzie) aus
O.C., California –
sie
alle sind Beispiele dafür, dass Jungs mit Idolpotenzial
(alle anderen waren als
Mathe-, Computer- oder Musiknerds
nur Beiwerk) attraktiv und
selbstbewusst waren, Projektionsflächen für unerfüllte Fantasien.
Mit ihnen stellte man sich alles vor: gefühlsselige Abenteuer, ekstatischen Sex, Villa mit Pool und Garten.

Mit
dem nerdigen Otis aus Sex
Education
würde sich
vermutlich kaum jemand eine Beziehung erträumen – erst recht nicht mit einem
Psychopathen wie dem
17-jährigen
James aus der Comicadaption The
End of the F***ing World
.
James (Alex Lawther) größter Traum ist es,
nach etlichen fiepsenden Tierchen auch
endlich einen
Menschen aufschlitzen zu können. Hauptsache irgendetwas spüren.

Geschlechterrollen: James (Alex Lawther) will kein Mann und kein Junge sein, sondern Mörder.

James (Alex Lawther) will kein Mann und kein Junge sein, sondern Mörder.
© Courtesy of Netflix

Seine Mitschülerin
Alyssa (Jessica Barden) ahnt
davon nichts und stachelt James zu einem
Roadtrip an.
James nimmt die Mission an, sein potenzielles Mordopfer auf dem
Beifahrersitz, das Messer griffbereit.
Und verwehrt sich dabei
jedem vorstellbaren Identifikationspotenzial: Er sieht nicht gut aus,
taugt weder als Held noch als bad boy,
noch nicht einmal als Filmzitat. Und
die Katharsis lässt auch auf sich warten.

Identifikation boten in der jüngeren Vergangenheit eher die Serien-Mädchen. Fans wollten so unbequem sein wie Hannah (Lena Dunham) in Girls, so vernünftig wie Rory (Alexis Bledel) aus Gilmore Girls, so hübsch wie Marissa (Mischa Barton) aus O.C., California oder
so rebellisch wie Effy (Kaya Scodelario)
aus
Skins.
Typen waren im Bild, damit frau was zum Anhimmeln hatte.

Jetzt rücken sie in den Fokus – als pubertäre Antihelden. In der dritten Staffel von Druck
des Content-Netzwerks funk dreht sich alles um Matteo, einen
vernuschelten und verwuschelten Abiturienten. Matteo hat unreine
Haut, er ist 24/7 stoned,
bringt kaum einen Satz raus und findet regelmäßig skurrile
Ausreden, um nicht mit seiner Freundin schlafen zu müssen. Dass er
eigentlich auf Jungs steht, ahnt der Zuschauer früher
als er.

Und auch Clay (Dylan Minnette), Protagonist der kontrovers
diskutierten Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht, ist
eher Typ Außenseiter statt Aufreißer. Obwohl er als Chronist
maßgeblich zur Aufklärung des Suizids seiner besten Freundin Hannah
beiträgt, ist er kein Held, sondern bleibt verdruckster Beobachter mit
Schrammen auf der Stirn. Und dekonstruiert ganz nebenbei die
bleachweißen Lächeln seiner Highschool-Kollegen, hinter denen sich
Vergewaltiger, Mobber und Amokläufer verbergen.

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