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EU-Sondergipfel: Zum Bleiben verdammt

Mehr Symbolik geht kaum. Ausgerechnet am 31. Oktober 2019, wenn
allerorts das Gruselfest Halloween gefeiert wird, soll Großbritannien die EU
verlassen. Ein Termin zum Fürchten, zumindest für viele Briten und viele
Festland-Europäer. Auf die etwas mehr als sechsmonatige Verlängerung haben sich
die 27 EU Staats- und Regierungschefs am Mittwoch abend nach einer achtstündigen Sitzung geeinigt.

Das sind die wichtigsten Punkte:

  • Die EU gewährt Großbritannien wie gewünscht
    einen Aufschub. Allerdings fällt er länger aus als die Briten wollten:
    Statt die EU zum 30. Juni zu verlassen, ist das neue offizielle
    Austrittsdatum der 31. Oktober
    , besagter Halloween-Tag.
  • Verabschiedet das britische Parlament das
    Austrittsabkommen früher und wird dies von der EU ratifziert, tritt
    das Königreich zum 1. des Folgemonats aus der EU aus. Das ist die berühmte
    “flexible Verlängerung” des Brexits, die EU-Ratspräsident Donald Tusk ins
    Gespräch gebracht hatte.
  • Gibt es indes keine Einigung in London, muss
    Großbritannien an den Wahlen zum EU Parlament Ende Mai teilnehmen. Macht es das
    nicht, kommt es zum Chaos-Brexit zum 1. Juni 2019.
  • Die britische Regierung – zumindest unter
    Theresa May – versichert, sie werde trotz des Austrittswunsches in den kommenden Monaten
    weiterhin konstruktiv in der EU mitarbeiten und die Kooperation nicht in
    Frage stellen.
  • Auf dem nächsten regulären EU-Gipfel Mitte Juni wollen
    sich die 27 Staats- und Regierungschefs noch einmal über die Fortschritte in
    Großbritannien informieren lassen. Entscheidungen sind aber nicht geplant.

Erste Erkenntnis dieses Brexit-Sondergipfels: Auf die EU ist
Verlass. Ein Ausscheiden Großbritanniens ohne Abkommen ist erst einmal kein
Thema mehr. Und das neue Austrittsdatum ist ein klassischer Kompromiss. Allerdings
nicht zwischen der EU und Großbritannien, was nahe liegen würde. Sondern
vor allem ein Kompromiss zwischen dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und einer
großen Anzahl an EU-Staaten, die sich für eine Verlängerung bis Ende des Jahres
oder sogar darüber hinaus ausgesprochen hatten.

Paris hatte
darauf gepocht,
nur eine kurze Verlängerung bis zum 30. Juni zu gewähren, wegen
der Widerstands von Macron verzögerten sich die Gespräche bis tief in die Nacht.
Macron sieht die Gefahr, dass weitere lange Brexit-Verhandlungen in London die
EU lähmen. Vor Beginn des Gipfels hatte er die Latte hochgelegt: Nichts
sei garantiert, erst recht keine lange Verlängerung.

Mit dieser Hardliner-Position aber konnte er sich nicht
durchsetzen. Die Wiedervorlage des Brexit für den Juni-Gipfel mag zwar ein
Zugeständnis an Macron sein. Da aber auf diesem Treffen nichts entschieden
wird, ist es vor allem Kosmetik. Am Morgen übernahm Macron die Verantwortung dafür, einen längeren längeren Brexit-Aufschub verhindert zu haben. “Es stimmt, die Mehrheit war eher für einen sehr langen Aufschub. Aber das war meiner Ansicht nach nicht logisch und vor allem weder gut für uns, noch für Großbritannien”, sagte er.

Die zweite Erkenntnis: Die EU sorgt sich um ihre
Glaubwürdigkeit und Funktionsfähigkeit. Vor allem sind manche Mitgliedsstaaten
alarmiert, dass Großbritannien sich nicht mehr dem EU-Prinzip der “aufrichtigen
Kooperation” verpflichtet fühlt, das in den EU-Verträgen festgeschrieben ist. Frankreich pochte daher am Mittwoch abend immer wieder auf
“seriöse Garantien”, damit Großbritannien Maßnahmen unterlässt,
welche die EU-Ziele gefährden könnten. Daher findet sich nun in der
Schlusserklärung eine Passage, die der EU zugesteht, auch in Zukunft ohne Großbritannien zu tagen, selbst wenn die Briten noch Mitglied sind.

Dem Partner nicht auf die Füße treten

Wie realistisch aber sind die Sorgen, dass Großbritannien in
den kommenden Monaten die Arbeit der EU sabotiert? Eigentlich müsste es im
Interesse der Briten sein, gute Beziehungen zu bewahren, schließlich
erhofft sich London nach dem Brexit einen guten Deal mit der EU. Und die
Chancen dafür erhöhen sich, wenn man dem Verhandlungspartner nicht laufend auf
die Füße tritt.

EU-Diplomaten spielen
die Ängste herunter, indem sie auf technische Umstände verweisen: Schließlich
pausiert die Arbeit der EU inzwischen de facto wegen der anstehenden Wahlen zum Europaparlament. Zwei große Entscheidungen sind danach zu treffen: die Ernennung
des neuen EU-Kommissionspräsidenten und die Verhandlungen über den nächsten
Haushalt der EU, der ab 2021 gilt. Gerade Budgetverhandlungen sind in der EU
extrem zäh, davon können vor allem die Briten erzählen. Bei den
Verhandlungen über das Budget 2014 bis 2020 hatte Ex-Premier David Cameron
zwischenzeitlich erfolgreich mit einem Veto gedroht, um so den berühmten
Briten-Rabatt
auszuhandeln. Die Frage ist allerdings, ob die
Haushaltsverhandlungen tatsächlich bis Jahresende so weit vorangebracht werden. Möglicherweise lässt sich das Budget auch nur von den EU 27 verabschieden, was hochrangige EU-Diplomaten glauben.

Der andere Knackpunkt ist die Wahl des neuen
EU-Kommissionspräsidenten: Die Briten, ganz gleich, ob May oder ihr möglicher
Nachfolger oder ihre Nachfolgerin an der Macht ist, werden dessen Wahl kaum sabotieren
können, weil die Nominierung nur eine
qualifizierte Mehrheit innerhalb des Europäischen Rats benötigt. Schon
mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatten die Briten Probleme  – und wurden überstimmt. Da die neue EU-Kommission ihre Arbeit erst ab November aufnimmt, könnte die EU mit dem Brexit zum 31. Oktober das Problem vermeiden, noch einen Kommissar benennen zu müssen.  

Die dritte Erkenntnis: Großbritannien wird wohl an den
Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen müssen, wenn die Regierung nicht
doch noch überraschend schnell eine Mehrheit für das
Austrittsabkommen organisieren kann. Was für eine groteske Situation,
schließlich wollte May die Teilnahme um jeden Preis verhindern. Nun wird sie
möglicherweise als die Premierministerin in die Geschichte Großbritanniens
eingehen, die zwar um jeden Preis den Brexit-Wunsch ihres Volkes
umsetzen wollte – es aber dennoch zur Teilnahme an den EU-Wahlen führte.

Klar ist: Wenn die Briten und Britinnen das EU-Parlament mitwählen, wird
es für sie keine Mitgliedschaft zweiter Klasse geben. Entweder ist man Mitglied
der EU – mit allen Rechten und Pflichten – oder eben nicht. Pro-Forma-EU-Abgeordnete
gibt es nicht.

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