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Brexit: Die Kultur des Kompromisses ist cool

Was unterscheidet die Europäische Union von Großbritannien? Die Staats- und Regierungschefs der EU brauchen acht
Stunden, um einen Kompromiss zu finden; das britische Parlament debattiert seit
sechs Monaten über den richtigen Weg aus der EU, bislang ohne Ergebnis.
Vielleicht sollte sich die Regierung in London an der EU mal ein Beispiel nehmen.

Tatsächlich entwickelt sich das
Ringen um den Brexit, je länger es dauert, zu einem Wettbewerb zwischen zwei
sehr unterschiedlichen politischen Kulturen. Das Verwaschene, Unscharfe,
manchmal allzu Flexible, das der EU anhaftet, ist oft kritisiert worden. Nun
erweist sich die Kultur des Kompromisses, auf der die Gemeinschaft basiert, als
ein Segen – vor allem für die Briten, von denen viele die EU für ihre
vermeintliche Unentschiedenheit lange Zeit verlacht haben.

Die nochmalige Verlängerung der
Austrittsfrist bis zum 31. Oktober
beinhaltet zwei klare Botschaften der Union. Die erste lautet: Auch wenn
ihr, liebe Briten, uns verlasst, bleiben wir an einem vernünftigen Umgang und
einem gedeihlichen Miteinander interessiert. Wir werfen euch nicht raus,
sondern tun alles, was in unserer Macht steht, um einen ungeordneten, harten
Brexit zu vermeiden. Schließlich bleiben wir Nachbarn und wollen auch künftig
miteinander Handel treiben und kooperieren. In diesem Ziel sind sich die 27
verbleibenden EU-Länder mit der Mehrheit der britischen Abgeordneten einig.
Mehrfach und mit großer Mehrheit hatte das Unterhaus die Möglichkeit eines No-Deal-Brexits ausgeschlossen. Auch Theresa May, die
Premierministerin, hat sich diese Position, wenn auch spät, zu eigen gemacht.  

Macrons Ungeduld verwundert

Die zweite Botschaft, die der
jüngste EU-Gipfel nach London sendet, klingt banal, ist aber dennoch wichtig:
Die Entscheidung darüber, welchen Weg die Briten aus der Union finden und ob
sie überhaupt noch gehen wollen, kann nur in London getroffen
werden, nicht in Brüssel. Und schon gar nicht in Paris.

Es entbehrt nicht einer gewissen
Ironie, dass ausgerechnet Emmanuel Macron, der keine Gelegenheit auslässt, die
Einheit und Stärke Europas zu beschwören, in der Auseinandersetzung mit
Großbritannien beinahe ausgeschert wäre. Der französische Präsident hatte in
den vergangenen Wochen immer wieder für eine harte Haltung gegenüber Großbritannien
plädiert
. Notfalls, so musste man Macron verstehen, würde er auch einen
ungeregelten Brexit in Kauf nehmen – lieber ein Ende mit Schrecken als ein  Schrecken ohne Ende. Sein Argument: Die EU habe Wichtigeres zu tun, als sich endlos
mit den Briten aufzuhalten.

Natürlich kostet der Brexit jede
Menge Nerven und politische Energien
. Trotzdem verwundert Macrons Ungeduld,
zumal er im selben Atemzug für eine möglichst enge Post-Brexit-Partnerschaft
mit den Briten plädiert, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik.
Nur, wo soll das Vertrauen für eine solche künftige Zusammenarbeit herkommen,
wenn man den Partner erst einmal rüde vor die Tür gesetzt hat? Am Ende einer
langen Gipfelnacht haben die 27 Staats- und Regierungschefs auch in der Terminfrage
einen plausiblen Kompromiss gefunden. Am 31. Oktober endet die Amtszeit der
aktuellen EU-Kommission; im besten Fall könnte die neue dann ohne Großbritannien
starten.

Die Frist reicht, um May zu stürzen

Die Europäische Union hat einmal
mehr strategische Geduld bewiesen. Die Briten haben nun sechs Monate Zeit, um
das Chaos, das sie angerichtet haben, zu ordnen.

Wer glaubt, dass die Brexit-Saga
nun erst einmal pausiert, wird wohl schnell eines Besseren belehrt werden. Mays
Gegenspieler, die radikalen Brexiteers werden keine Ruhe geben, ihr
Verrat und die vermeintliche Demütigung des eigenen Landes vorzuwerfen. “Treacherous
May” hatte das Boulevardblatt Sun geschrieben: “betrügerische May”.
Der Ton ist scharf geworden und er wird noch schärfer werden. Die nächste
Gelegenheit zur Abrechnung innerhalb der konservativen Tories gibt es bereits in
wenigen Wochen. Anfang Mai finden in Großbritannien Kommunalwahlen statt und
alles andere als eine deftige Niederlage der Tories wäre eine große
Überraschung. Auch dafür reicht die Frist bis Ende Oktober: um May zu stürzen.

Dass die Briten, wenn sie so
weitermachen, am 23. Mai auch noch einmal an der Europawahl teilnehmen müssen,
ist hingegen kurios, aber kein wirklicher Schaden. Man könnte sogar sagen: Es
wäre eine gerechte Strafe.

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