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Lil Nas X: Cowboys auf Codein

Howdy, Cowboys! Heute soll es an dieser Stelle um Countrymusik gehen – was bedeutet, dass es in Wahrheit um Pferde gehen wird. Die edelsten aller Paarhufer waren immer schon dann zur Stelle, wenn sich kulturell bedeutsame Momente in der gemeinsamen Geschichte von Pop und Sporenstiefelsound ergaben. 1971 etwa, als die Rolling Stones kurzzeitig dachten, sie seien jetzt eine Countryband, und auf der Suche nach unverbrauchten Heroinmetaphern den Song Wild Horses schrieben. Oder 2010, als Taylor Swift einen gescheiterten Prinz Schimmelreiter abservierte, um mit der zugehörigen Countryballade White Horse den ersten ihrer bisher zehn Grammys einzusammeln.

Das Pferd der Stunde ist zwar schwarz, aber auch sehr erfolgreich. Es prescht über das Cover von Old Town Road, der ersten kommerziellen Veröffentlichung des Rappers Lil Nas X aus den Südstaaten der USA. Und es ist gekommen, um die Überzeugungen all jener Pop-Pessimisten platt zu trampeln, die dachten, dass sie gar nichts mehr schocken könnte. In weniger als zwei Minuten errichtet der Song eine 250-Meilen-Brücke von Atlanta nach Nashville, von Breakdance zu Squaredance, wenn man so will. Sie markiert nicht nur die Erfindung des sogenannten Countrytrap, sondern auch das kontroverseste Bauprojekt des bisherigen Popjahres. Gerade hat Old Town Road den ersten Platz der US-Singlecharts erreicht. Es war ein wilder Ritt bis dorthin.

Lil Nas X heißt eigentlich Montero Lamar Hill und ist gerade 20 Jahre alt geworden. Der Mustang, von dem er in Old Town Road mit unverbindlicher Singsangstimme erzählt, soll möglicherweise gar kein Pferd sein, sondern ein Ford, der im eher gedrosselten Hustensafttempo über die Straße rollt. Egal. Der Staub der Straße schmeckt trotzdem echt. Hill wirbelt ihn mit Banjo-Samples und charakteristisch knatternder Snare-Drum auf. Cowboyromantik und raptypische cockiness verbinden sich zu einem ulkigen Novelty-Erfolg, weitere Gründe zur Aufregung gibt es nicht. Könnte man meinen.

Tatsächlich wird um Old Town Road gerade mit einer Vehemenz gestritten, die in den Popdiskursen des laufenden Jahres für mutmaßliche Sexualstraftäter und die KZ-Fantasien einer deutschen Comedy-Metal-Band reserviert zu sein schien. Fast alles, was man über die gegenwärtige Poplandschaft wissen muss, darüber, wie heutzutage Hits produziert und Karrieren fingiert werden, lässt sich an dem Song ablesen. Aber auch vieles, was schiefläuft. Die herkömmliche Tonträgerindustrie und ihre altgedienten Verwertungsarme wie Presse, Preisverleiher und Chartbehörden hatten bisher nur marginalen Einfluss auf die Erfolgsgeschichte von Lil Nas X. Wieder einmal ist alles ein bisschen zu schnell für sie gegangen.

Als Old Town Road im vergangenen Dezember veröffentlicht wurde, schien es ein Fall für die amerikanischen Countrycharts zu sein. Dort, wo sonst Toby Keith, Kenny Chesney und andere Cowboyhüte den Ton angeben, entwickelte der Song ein amüsantes Eigenleben – das auf Platz 19 der Hitparade ein jähes Ende fand, als das Branchenblatt Billboard eine Art virtuelles Hausverbot gegen Lil Nas X verhängte. Die Macher der Zeitschrift, die seit mehr als 80 Jahren für die Ermittlung und Verbreitung aller US-Charts zuständig ist, attestierten Old Town Road zu wenige originäre Countryelemente für eine weitere Zulassung. Das Urteil über Lil Nas X war gesprochen: No country for young man.

Einmal mehr demonstrierte eine traditionsreiche Institution der Musikindustrie mit dieser Maßnahme bemerkenswerte Betriebsblindheit. Wie schon die Grammy Awards, deren Entscheidungsträger in den vergangenen Jahren kein Fettnäpfchen ausließen, wenn es um die Einbettung afroamerikanischer Künstler in ihren blütenweißen Galaabend ging, wirkten auch die Verantwortlichen bei Billboard völlig überrumpelt von den Protesten, die sie mit der Verbannung von Lil Nas X aus den Countrycharts auslösten. Auf ihr pedantisches Vorgehen folgte ein pampiges Statement. Ein Sprecher versicherte, dass die Entscheidung natürlich überhaupt nichts mit der Hautfarbe des Künstlers zu tun gehabt habe.

Hits: 12