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Europa: Die Revolution ist längst da

Jan Zielonka ist Professor für Europäische Politik in Oxford und
Ralf Dahrendorf Fellow am St Antony’s College. Im Februar 2019 erscheint
in Deutschland sein Buch “Konterrevolution. Der Rückzug des liberalen Europa“,
in dem er den (links-)liberalen Eliten die Schuld am Aufstieg von
Nationalismus und Rechtspopulismus gibt. Wenige Tage vor der wichtigen Brexit-Sondersitzung des europäischen Rats richtet er mahnende Worte an die europäischen Politiker – und fordert die Bürgerinnen und Bürger auf, ihr Schicksal selbst zu bestimmen.

Der Brexit ist eine lokale Version des postliberalen
Zustands, in dem sich das heutige Europa befindet. Durch den Brexit wird die
weitverbreitete Ernüchterung gegenüber der herrschenden politischen Klasse
veranschaulicht, er zeigt den Aufstieg alternativer Werte und das Chaos, das
durch den Bruch mit der Vergangenheit entsteht, wenn klare Alternativen fehlen.
Die dadurch entstandenen Konflikte sind dramatisch, ihre Auswirkungen
tiefgreifend. 

Daher ist es nicht übertrieben zu sagen, dass wir in
revolutionären oder konterrevolutionären Zeiten leben. Der Brexit mag auf uns
wie ein Sonderfall wirken, aber die Lage in Polen, den Niederlanden,
Österreich, Dänemark, Frankreich und Italien ist ebenso turbulent, und auch
Deutschland steckt sich langsam mit dem autoritären Virus seiner Nachbarn an.
Wenn Europa falsch mit dem Brexit umgeht, wird sich die Situation nicht nur in
wirtschaftlicher Hinsicht verschlimmern, auch die Demokratie und die politische
Kultur werden leiden.

Aus dem Brexit lassen deshalb drei Lehren ziehen: Erstens –
und am offensichtlichsten – ist der Brexit der typische Fall eines
Wähleraufstandes gegen die Politiker rechts und links der Mitte, die seit drei
oder mehr Jahrzehnten Regierungsverantwortung tragen. Die Wähler geben sich
nicht länger mit oligarchischen Parteien und Entscheidungen von nicht gewählten
Institutionen zufrieden. Sie haben genug von der ineffizienten Migrations- und
Außenpolitik
, die Feinde schafft und Terror heranzüchtet. Sie haben die
kaputten Straßen satt, die heruntergekommenen Krankenhäuser und Schulen.

Die Säulen der liberalen Gesellschaft werden angegriffen

Jede
Wahl zeigt den gleichen Trend; die Wähler strafen die alte Garde ab und wählen
stattdessen die new kids on the block.
Zu diesen neuen Kräften gehören nicht nur fremdenfeindliche Parteien, sondern
auch grüne oder andere neue, noch schwer einzuordnende Organisationen – etwa
die Frühlingspartei in Polen oder das Forum für Demokratie in den Niederlanden.

Zweitens zeigt der Brexit aber, dass es bei der autoritären
Konterrevolution nicht lediglich um einen Wachwechsel geht; es geht um nicht
weniger als eine veränderte Weltsicht. Es ist ein Streit entbrannt um die
Vorstellung einer guten Gesellschaft. Die normativen Säulen der liberalen
Ordnung
werden angegriffen: politischer Pluralismus und kulturelle Toleranz,
Minderheitenrechte und die multikulturelle Gesellschaft, offene Grenzen und
geteilte Souveränität.

Die Europäische Union steht nicht nur wegen ihrer
Starrheit und ihres Demokratiedefizits in der Kritik; ihre Feinde sehen in der
EU ein Vehikel, welches fremde Werte verbreitet, die die nationalen und religiösen
Traditionen der Mitgliedsländer untergraben. Sie argumentieren, dass
wirtschaftliche Solidarität starke kulturelle Bindungen erfordere, die durch
die Anstrengungen der Integration verwässert würden. Sie glauben, dass eine
sinnvolle und gerechte Umverteilung in einem Europa mit offenen Grenzen
undenkbar ist.

Pragmatische Lösungen sind zwecklos

Drittens zeigt der Brexit, dass ein Bruch des liberalen Konsenses zu Chaos führt – zumindest für eine gewisse Zeit. Denn
pragmatische Lösungen eignen sich nicht zur Lösung identitärer und ideologischer
Konflikte. Der Liberalismus war nicht nur das Handbuch, um Wahlen zu gewinnen
und Geld zu verdienen. Er war stattdessen eine umfassende “Bibel” über das, was
in einer Gesellschaft als richtig oder falsch gilt.

Die Autoritären haben diese
liberalen Wahrheiten infrage gestellt und eine neue Interpretation des
Rationalen und Normalen vorgeschlagen. Beim Brexit geht es nicht nur um
Handelsregeln; es geht um die Definition davon, was “britisch” oder
“europäisch” ist. Die Gegner und die Befürworter des Brexits glauben beide
wirklich, dass sie recht haben. Keine der beiden Seiten möchte dazu verdammt werden,
politisch Geschichte zu sein.

Ähnlich fundamentale identitäre und ideologische
Konflikte finden auch in anderen Staaten statt. Praktische Lösungen dafür sind
nicht in Sicht.

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