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Männlichkeit: Die beste Zeit, ein Mann zu sein

Meine beste Zeit als Mann begann, als ich ein Kind in Lumpen hüllte. Mein
Kind. Der Lumpen war die Säuglingsdecke meiner Frau. Die Ränder zerfasert, das Gewebe
zerschlissen, die Farben verblasst. Ein Lieblingsstück, um ein Lieblingskind aus der
Geburtsstation nach Hause zu tragen. Fünfhundert Meter, die meine Frau noch mit dem Taxi
fahren musste. Sie nickte mir zu. “Du und das Mini, ihr schafft das.” Ich nickte nicht. Ich
konzentrierte mich. Auf den Weg. Das Mini sah so klein aus in der Decke. Ich presste es an
mich, ging an einer Baustelle vorbei, überquerte die Straße. Da baute sich eine Frau vor mir
auf, Zigarette in den Händen. “Zu dünn eingepackt.” Sie pikste mit der Kippe in Richtung Mini.
“Hat es keine Mutter?” – “Es hat mich.” – “Und was will’n Mann mit so’m Würmchen?”

Ich lief weiter. Wortlos. Weil ich mich das auch fragte. Die Männer, unter denen ich aufgewachsen war, trugen keine Kinder durch die Gegend. Sie trugen Verantwortung – zum Beispiel dafür, dass Geld nach Hause kam. Es waren Männer, die wenig redeten, aber vorgaben, alles im Griff zu haben. Wurden sie Väter, änderte sich nicht viel. Außer dass sie tagsüber länger arbeiteten und abends schlechtere Laune hatten. Ich wusste, dass es so nicht werden durfte. Meine Frau wollte arbeiten. Und ich wollte keine schlechte Laune.

“Gibt es nicht auch andere Väter?”, fragte ich mich. Und stand in unserer Hofeinfahrt. Mit einem schlafenden Kind. Neben mir hielt ein Taxi, meine Frau stieg aus, lächelte. “Ihr seid schon jetzt ein super Team!”

Manchmal reichen ein paar Schritte, damit sich die Perspektive ändert. Ich wurde ein Mann, der sein Kind trug. Je länger ich es trug, desto leichter fiel es mir. So leicht, dass ich erstaunt war, als ich feststellte, dass mein Glück eine Ausnahme zu sein scheint. Denn der Mann an und für sich ist nicht glücklich; er ist in der Krise. Weil er nichts mehr im Griff hat. Angeblich.

Der Niedergang zeigte sich zuerst in den USA. “Das Ende der Männer” hieß ein Aufsatz, der 2010 im US-Magazin
The Atlantic
erschien. Darin prophezeite die Autorin Hanna Rosin, dass die Dominanz der Männer zu Ende gehe. So habe die letzte Wirtschaftskrise vor allem Männerjobs gekostet. Es folgte eine Debatte, die bis heute nicht endet. Auch in Deutschland, wo Psychologen, Soziologen, Mediziner, Politiker, Feministinnen und Männerrechtler schon seit Längerem Fakten zusammentragen.

Im Vergleich zu Frauen sind Männer öfter arbeitslos, alkoholkrank, obdachlos und gewalttätig – auch gegen sich selbst. Die Krise beginnt schon in der Schule, wo die bewegungshungrigen Jungs hinter ihren konzentrierten Klassenkameradinnen zurückbleiben. Ritalin statt Rauferei. Schulversager mit düsteren Zukunftsaussichten. Einem stagnierenden Industriesektor mit traditionellen Männerjobs steht ein wachsender Dienstleistungssektor gegenüber, in dem Empathie und Kommunikation gefragt sind. Muskelkraft? Allenfalls im Fitnessstudio.

Die ökonomische Unsicherheit lässt das alte Männerbild bröckeln. Härte, Risikobereitschaft, Selbstbeherrschung – womit man einst Schlachten gewann, damit werden jetzt Banken in den Abgrund gerissen. Die Stärken der Krieger von gestern sind die Schwächen der Typen von heute. In Filmen kann man sich dieses überwundene Männerbild ansehen. Wortkarge Rächer und einsame Anführer, die durch Werke wie
Stirb langsam,
Braveheart
oder
Spiel mir das Lied vom Tod
streifen. Die #MeToo-Debatte gab diesem Selbstbild der Männer den Rest. “Der bedrohte Mann”, titelte die
ZEIT
(Nr. 15/18)
.

Der Mann weiß nicht mehr, wer er ist. Und noch weniger, wer er sein sollte.

Seine Hilflosigkeit wird auf Konferenzen wie dem “Männer-Kongress” diskutiert, auf dem sich Wissenschaftler über männliche Bedürfnisse austauschen. In Büchern wie
Was vom Manne übrig blieb
und Studien mit Namen wie
Not am Mann. Der deutsche
Playboy
widmete der Ratlosigkeit gar eine Sonderausgabe:
How to be a man
– “Wie man Mann ist”. In der Ausgabe finden sich Tipps zum Rasenpflegen und Umweltretten. Eine Nackte findet sich nicht. Wenn das keine Krise ist.

Ich behaupte: Es ist keine Krise.

Im Gegenteil: Es ist die beste Zeit, ein Mann zu sein.

Den Männern wird das alte langweilige Drehbuch endlich aus der Hand gerissen. Ihnen wird die Freiheit zum Improvisieren geschenkt. Es gibt zwei Arten von Freiheit. Die eine ist die Freiheit, etwas zu dürfen. Die andere ist die Freiheit, etwas nicht zu müssen.

Für Männer gelten beide: Sie dürfen heute alles. Und müssen nichts.

Sie können entscheiden, wer sie sein wollen. Ohne einem Männerbild zu folgen, das zwar Orientierung bietet, aber auch Erwartungen schürt. Rollen zwingen immer dazu, einen Teil seiner selbst zu verleugnen. Die Identität des Mannes ist brüchig? Es brechen all die Mauern, die Männer seit Generationen eingekerkert haben. Seit der industriellen Revolution.

Diese riss die Männer von den Bauernhöfen und verfrachtete sie in Büros und Fabriken. Die Frauen blieben zurück, kümmerten sich um Kinder und Heim. Eine Trennung mit Folgen. Beschrieben 1976, von der Historikerin Karin Hausen, einer Pionierin der Frauen- und Geschlechterforschung, im Aufsatz “Die Polarisierung der ‘Geschlechtscharaktere'”. Sperriger Titel, klarer Befund: Die gegensätzlichen Arbeitsorte führten zu gegensätzlichen Rollenbildern. Der Mann draußen in der Welt – aktiv, rational, willensstark. Die Frau drinnen im Heim – passiv, sich emotional verausgabend.

Die neue Arbeitswelt schuf neue Menschen. Nicht überall, aber an entscheidender Stelle, im Bürgertum. Hier wurden Männer für einen Staatsdienst herangezogen, dessen Ideal der sachliche Bürokrat war. Schon seit dem 16. Jahrhundert, so Karin Hausen, bildete der Staat Männer für diese Arbeitswelt aus, was dazu führte, “dass es im 18. Jahrhundert beim Bürgertum tatsächlich hinsichtlich der Rationalität zwischen Mann und Frau erhebliche, anerzogene Wesensunterschiede gab”. Das Rollenbild des bürgerlichen Mannes wurde zu seiner Realität. Und bald zu der aller Männer, denn das Bürgertum war Vorbild.

Hausens Erkenntnisse werden von zeitgenössischen Experten wie Matthias Franz geteilt. Der Düsseldorfer ist Professor für psychosomatische Medizin und Initiator des “Männer-Kongresses”. In Vorträgen und Interviews beschreibt er, wie die Industrialisierung Männer zu “Menschenmaterial” und “Wirtschaftsware” für Krieg und Produktion machte. Zu Maschinen.

Kein Mensch ist eine Maschine, trotzdem galt das Ungerührte, Unbarmherzige, Maschinenhafte bald als wahre “Natur des Mannes”. Vergessen war das Männerbild anderer Epochen.

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