/Genozid in Ruanda: Genozid in Ruanda

Genozid in Ruanda: Genozid in Ruanda


Vor genau 25 Jahren begann der Genozid in Ruanda.100 Tage später waren nach UN-Angaben über 800.000 Tutsis und moderate Hutu tot. Die Weltgemeinschaft sah tatenlos zu. Erst der Einmarsch Paul Kagames Rebellenarmee RPF beendete die Morde. Kagame ist  heute Präsident von Ruanda.


Der freie Fotojournalist Dominic Nahr reiste im März 2019 im Auftrag von Save the Children nach Ruanda. Wir publizieren hier seine Reportage. 



Es ist Anfangs März und es regnet. Wir sitzen in einem Konferenzraum der Kinderrechtsorganisation Save the Children in Kigali und schauen uns Hunderte von Dokumenten und Polaroidfotos an, als Daphrose Mugorewindekwe auf ein Foto zeigt und strahlt: “An diesen Jungen erinnere ich mich!” Sie zeigt mir das Foto eines kleinen Jungen, der schüchtern in die Kamera lächelt. Sein Name ist Fils, also “Junge” auf Französisch, er war damals fünf Jahre alt.

Daphrose Mugorewindekwe oder einfach “Mama Daphy” ist 64 Jahre alt. Seit Oktober 1994 arbeitete sie für Save the Children. Nach dem Völkermord waren offiziellen Zahlen zufolge mehr als 300.000 Kinder auf der verzweifelten Suche nach einem Zuhause. Viele davon waren auf der Massenflucht von ihren Angehörigen getrennt worden.

Save the Children registrierte gemeinsam mit UN-Programmen und anderen Organisationen Tausende Kinder mit Polaroidfotos und suchte nach Angehörigen. Wenn niemand zu finden oder alle tot waren, halfen Mama Daphy und ihre Kollegen, die Kinder an Pflegefamilien zu vermitteln oder brachten sie in Waisenhäusern unter.

Fils war alleine, als Mama Daphy seine Akte anlegte. Sie nahm ihn kurzerhand in ihre Familie, bis sie eine Pflegefamilie fanden.

Von Kigali aus fahren wir in Richtung Nordwesten nach Gisenyi an der Grenze zum Kongo, um den heute 29-jährigen Fils zu suchen. Gisenyi, am friedlichen Ufer des Kivu-Sees, war eine Drehscheibe für viele auf der Fluchtroute in den Kongo.

Während wir durch Gassen auf holprigem Vulkangestein fahren, beschreibt Mama Daphy mir, wie es hier 1994 aussah: “Die Stadt war sehr dreckig. Es gab ausgebrannte Autos auf der Straße, verbrannte Leichen – Menschenleichen – auf der Straße. Und eine ganze Menge Hunde. Die Hunde waren riesig. Mir wurde gesagt, dass sie so groß wurden, weil sie tote Menschen fraßen.”

Mit Hinweisen von Mama Daphys Verwandten treffen wir Fils schließlich auf der Straße. Er sieht noch immer so aus wie auf dem Bild.

Fils lädt uns zu sich nach Hause ein. Wir sitzen in einem kleinem Wohnzimmer, dahinter eine Schlafkammer, die er sich mit einem Freund teilt. Fils und Mama Daphy sitzen einander gegenüber, halten sich an den Händen und reden und reden. Es ist ein bewegendes Wiedersehen.

Er war nicht sicher, wer nach ihm gefragt hatte und wer heute zu Besuch kommen würde. Insgeheim hatte er gehofft, es könnte einer seiner Eltern sein. Er weiß nicht, ob sie leben.

Seine Eltern hat er das letzte Mal gesehen, als sie ihr Zuhause in Kigali verließen. Fils muss etwa vier Jahre alt gewesen sein. Er kann sich nicht mehr erinnern, ob es ihr Auto war oder ob sein Vater nur der Fahrer war. Als es ein Problem mit dem Auto gab, versuchte sein Vater, Hilfe zu finden. Er kam nie zurück.

Seine Mutter lag mit einem blutigen Bein am Straßenrand, flehte Fremde an, die Kinder mitzunehmen. Die Kinder wurden mitgenommen, die Mutter nicht. Sein Bruder und er verbrachten eine Nacht am Waldesrand, bekamen von Fremden Süßkartoffeln und Honig. Zu Fuß ging es weiter, durch Gisenyi in den Kongo.

“Ich wusste nichts über den Krieg. An was ich mich erinnere, ist, dass Menschen rannten, sie rannten auf der Straße. Es waren so, so viele Menschen.”

Irgendwann wechselten die Hände, die den kleinen Fils hielten, irgendwann wusste er nicht mehr, wem die Hand gehörte, die er hielt. Irgendwann war sein Bruder Rukundu weg – und Fils alleine.

Nach der Zeit bei Mama Daphy wuchs er in einer Pflegefamilie auf. Am Anfang sei es ihm gut ergangen. Doch mehr und mehr wurde er als Arbeitskraft ausgenutzt. In der Schule konnte er sich kaum mehr wach halten, seine Leistungen ließen dermaßen nach, dass er eine Klasse drei Mal wiederholen musste. 

Er wechselte Pflegefamilien, schlug sich schließlich alleine durch. Heute steht er auf eigenen Füßen und blickt der Zukunft optimistisch entgegen: Ein eigenes Haus und eine eigene Familie. Kinder? Sicher.

Der Anfang ist geschafft: Die Zeiten, in denen er als Kerosinverkäufer auf der Straße arbeitet oder als Maler aushalf, sind vorbei. Heute ist er sein eigener Chef, hat einen Stand auf dem großen Markt in Gisenyi, wo er Schuhe verkauft. Erfolgreich, wie er mir stolz erzählt.

Die Grenze zum Kongo, über die er als vierjähriger flüchtete, bleibt weiterhin ein wichtiger Teil von Fils’ Leben. Alle paar Tage geht er die Strecke, um die gebrauchten Schuhe für sein Geschäft einzukaufen. 

Hits: 7