/Sterbehilfe: “Wer schön nicht mehr kann leben”

Sterbehilfe: “Wer schön nicht mehr kann leben”

Es ist nicht überliefert, wie sich Speusippos im Jahr 338 vor Christus das
Leben nahm. Knapp zehn Jahre lang hatte er die berühmte Philosophenschule seines Onkels Platon
geführt, dann beschloss er, es sei genug: Antiken Chronisten zufolge litt er unter einer
fortschreitenden Lähmung der Glieder und unter ständigem Juckreiz.

Half ein Arzt dem rund 70-Jährigen beim Suizid? Gut möglich, doch darüber schweigen die Quellen. Fest steht: Wer immer ihm das Gift gereicht hätte, wäre nicht zur Verantwortung gezogen worden. Denn Hippokrates (um 460–370 v. Chr.) war zwar ein Zeitgenosse des Speusippos, doch den nach ihm benannten Eid gab es wohl noch nicht. Darin heißt es: “Weder will ich jemandem ein tödliches Medikament geben, wenn ich darum gebeten werde, noch will ich in dieser Hinsicht einen Rat erteilen.”

Bis heute steht dieser Satz im Mittelpunkt des Streits um die Sterbehilfe. 2015 hat der Bundestag die Sache per Gesetz geregelt: Nach Paragraf 217 des Strafgesetzbuches ist ärztliche Sterbehilfe geduldet und lediglich die “geschäftsmäßige” Beihilfe unter Strafe gestellt. Was dubiosen Vereinen das Handwerk legen soll, kann indes auch Mediziner vor Gericht bringen. Etwa wenn sie viele Schwerkranke betreuen und regelmäßig um Hilfe bei der Selbsttötung gebeten werden. Auch Palliativmediziner sind betroffen, denn sie arbeiten mit Schmerzmitteln, die in hoher Dosis tödlich sind. Elf Klagen sind gegen das Gesetz anhängig. Nächste Woche wird das Bundesverfassungsgericht verhandeln.

Nach Speusippos’ und Hippokrates’ Tod vergingen fast vier Jahrhunderte, ehe der hippokratische Eid erstmals erwähnt wurde: im Jahr 40 nach Christus. Das erste Zitat daraus ist sogar erst aus dem 3. Jahrhundert überliefert. “Der sogenannte Eid des Hippokrates wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit erst nach dessen Tod formuliert”, sagt der Bamberger Althistoriker Hartwin Brandt. Vermutlich wurde er dem Arzt später zugeschrieben.

Hippokrates kam von der Insel Kos, aus einer Arztfamilie, die ihre Abstammung auf den Heilgott Asklepios zurückführte. Mit seiner Auffassung, dass alle Leiden auf Ungleichgewichten im Körper beruhen, war er schon zu Lebzeiten eine Berühmtheit. Allerdings gab es im antiken Griechenland noch mehrere andere Ärzteschulen – und auf die Frage nach der Sterbehilfe keine eindeutige Antwort.

So wurde etwa zeitgleich eine weitere griechische Insel berühmt, Kea, und zwar für ein Getränk aus Schierling und/oder Mohn, das man den “keischen Becher” nannte. Beide Substanzen wirken in niedriger Dosierung schmerzstillend, in höherer tödlich. Der Trank stand daher in dem Ruf, Sterbewillige vergleichsweise sanft ins Jenseits zu befördern. In einer Zeit, in der man Krebs und andere schwere Krankheiten zwar diagnostizieren, nicht aber therapieren konnte, war Gift zu verabreichen oft das Einzige, was ein Mediziner für seine bedauernswerten Patienten tun konnte.

Der Komödiendichter Menandros (342–291 v. Chr.), gern zitiert mit dem Satz “Wen die Götter lieben, der stirbt jung”, widmete auch dem Todestrank einen Vers: “Gut ist der Keer Brauch: Wer schön nicht mehr kann leben, der gibt das Leben auf.” Menandros war Athener, seine Stücke wurden im gesamten griechischen Einflussgebiet aufgeführt. Die Praxis muss also weithin bekannt gewesen sein. Selbst aus der griechischen Kolonie Massalia (Marseille) wird von Alten und Schwerkranken berichtet, die um den Schierlingstrank baten. Über den Wunsch entschied der Rat der Stadt. Er verwaltete die Giftvorräte und prüfte den Antrag.

Verbreitet war überdies das Todesfasten. Besonders seit der Philosoph Hegesias um 300 v. Chr. seine Schrift
Der Hungerselbstmörder
verfasst hatte. Sie handelt von einem, der aus Lebensüberdruss die Nahrung verweigert. Als Freunde versuchen, ihn umzustimmen, beginnt er die Bürden des menschlichen Lebens aufzuzählen. Das Werk selbst ist nicht erhalten, doch – so viel ist überliefert – es muss eine wahre Suizid-Epidemie ausgelöst haben.

Die Frage, ob es statthaft sei, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, mit oder ohne Hilfe, beschäftigte zwischen dem 6. und 3. Jahrhundert vor Christus alle wichtigen Denkerschulen Athens.

Strikt dagegen waren jene, die an die Fortexistenz der Seele nach dem Tod glaubten. Pythagoras von Samos etwa, den mehr noch als die Geometrie die Frage umtrieb, wie man die Seele rein erhalten und ihr die Rückkehr in göttliche Sphären ermöglichen könne. Ähnlich sah es Platon und wohl auch sein Lehrmeister Sokrates, dessen Gedanken Platon überlieferte. So lässt er den zum Tode verurteilten Sokrates sagen, dass der Tod zwar willkommen, Selbstmord aber Unrecht sei. Zumindest dürfe man sich nicht töten, ehe höhere Mächte “eine Notwendigkeit dazu verfügt haben”.

Aristoteles lehnte Selbsttötung mit Rücksicht auf die Wehrfähigkeit des Staates ab: “Zu sterben, um irgendeinem Schmerze zu entgehen, zeigt nicht Tapferkeit, sondern Feigheit.” Milder gestimmt waren die Epikureer. Da sie alles im Leben nach dem Lustgewinn beurteilten, hatten sie Verständnis für Kranke, die ihrem beschwerlich gewordenen Dasein ein Ende bereiten wollten.

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